Der Digestif ist ein großer Klassiker. Als Spirituose oder Likör, fortifizierter Wein oder gar als Drink – der Digestif ist das krönende Ende eines Essens und gehört in den Kanon vieler nationaler oder regionaler Kulinarik. Er ist die Verbindung vom Tisch zum jeweiligen Ort und verrät vieles über das Terroir der Region. Doch er scheint ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Warum dem so ist und weshalb der Digestif ein schützenswertes Getränk ist, erfährst Du in diesem zweiteiligen Artikel. Dieser erste Teil hat eine Lesezeit von ca. 8 Minuten.
Mit dem Ende ist ein Anfang gemacht
Der letzte Gang wird ausgehoben – das Dessert war wundervoll. Eine wohlige Sättigung ist erreicht und der letzte Schluck des süßen Weins wirkt ein letztes Mal wie ein Feuerwerk aus tausend Aromen. Glückseligkeit setzt ein und man ist sich einig am Tisch: ein wahrlich ausgezeichnetes Mahl. Doch der Abend ist noch nicht vorbei. Es duftet schon nach frischem Kaffee und dazu gesellt sich das Verlangen nach einem letzten Schluck. Nicht viel – aber ein liquides Dessert nach dem Dessert. Ein letztes Detail – dies fehlt noch zur Perfektion. Vorhang auf für den Digestif, denn wo ein Dinner sein Ende findet, da beginnt die Sternstunde der unterstützenden Hochprozentigkeit.
Digestif – dem Namen nach wohlwirkend
Dass der Digestif wohltuend ist, darf man werbetechnisch nicht schreiben. Vor allem nicht in der kommerziellen Bewerbung von Spirituosen, denn dieser Verweis auf eine gesundheitliche Wirkung ist abmahntauglich und verboten. Dabei ist der Digestif tatsächlich digestivierend – auch wenn es dieses Wort so nicht gibt. Abgeleitet vom lateinischen digestivus heißt es übersetzt so viel wie verdauungsfördernd. Und dies ist nun wirklich wohltuend, da werden wir uns wohl einig sein.
Bittere Kräuter
Der Ursprung des Digestifs liegt viele Jahrhunderte zurück in den Kräutermischungen der Mönche. Schon im alten Ägypten, später aber besonders im europäischen Mittelalter sind diese Mixturen und Elixiere ein streng gehütetes Geheimnis in den Küchen der Klöster. Die verdauungsfördernden Eigenschaften entstammen vor allem den bitteren und herbalen Aromen der Kräuter, die oft durch Alkohol extrahiert und später mit allerlei Süßungsmitteln angereichert wurden.
Eben jener bittere Geschmack half und hilft – neben allerlei biochemischen Strukturen wie z. Bsp. Enzymen – die gerade genossene Mahlzeit zu verdauen. Der bittere Geschmack ist für unseren Körper ein Anzeichen giftiger Stoffe und bewirkt, dass unser Körper denkt, er hätte eben solche zu sich genommen. Dies führt zu dem körpereigenen Verlangen, diese Stoffe schnellstmöglich durch Stoffwechsel wieder aus dem Körper zu bekommen und dadurch wird die Verdauung beschleunigt. Dies ist der kleine Trick hinter dem großen Mythos bitterer Elixiere und der historischen Grundlage aller Digestifs.
Der Digestif – ein europäisches Phänomen?
Wenn man sich durch die schier unendliche Vielfalt der liquiden Desserts arbeitet, so stellt man fest, dass die meisten dieser Produkte europäischer Provenienz sind. In vielen – vor allem amerikanischen – Artikeln zu diesem Thema wird dezidiert darauf hingewiesen, dass zumindest in der amerikanischen Esskultur das Dinner, als dessen krönender Abschluss der Digestif ja gilt – nur zu bestimmten Feiertagen zelebriert wird. Der kulinarische Alltag sieht weniger opulent aus und bedarf daher keinem Verdauungsgetränk. Die europäische Tradition des Speisens ist da anders konzipiert. Vor allem, wenn man tiefer in die Geschichte der Kulinarik auf dem alten Kontinent eintaucht.
Von den alten Königshöfen, an denen Opulenz zur Tagesordnung gehörte, über die Französische Revolution und die entstehenden Restaurants bis in die heutige Zeit – das Dinner ist aus der europäischen Tischkultur nicht wegzudenken. Und mit Ihm der klassische Digestif als Antipode des Aperitifs, jener liquiden Instanz vor dem Essen (dem wir uns hier gewidmet haben).
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wurde aus den bitteren Elixieren der Mönche ein wundervoll diverses Kulturgut, dessen Verbreitung in ganz Europa stattfand. Mit immer weiteren Regionen kamen immer mehr neue Arten des Digestifs dazu, so dass schnell die Dominanz der ancienen Bitterliköre ins Wanken geriet.
Digestif – ein globales Phänomen!
Neben der Vielzahl der noch zu betrachtenden europäischen Digestifs gibt es jedoch fast auf der ganzen Welt Rituale, mit denen ein Essen abgeschlossen wird. Tee- und Kaffee-Zeremonien stellen dabei eine besondere Form des alkoholfreien Digestifs dar, dessen wir uns in Europa mittlerweile auch bedienen – zumeist in Form des obligatorischen Espresso danach.
Vor allem im asiatischen Raum spielen auch alkoholische Getränke eine besondere Rolle. Genannt werden müssen hier der Baiju aus China, japanischer Shochu und Umegu als auch Amrit in Indien und Arrak im südostasiatischen Raum. Dieser aus Palmen- und Rohrzuckersäften hergestellte Digestif darf jedoch nicht mit dem arabische Arak oder Araq verwechselt werden, der eine starke Ähnlichkeit mit anderen bekannten Anisschnäpsen und -Likören hat.
Das Thema Digestif ist also ein globales Phänomen – in diesem Überblick-gebenden Artikel werden wir uns jedoch auf die bekanntesten, zumeist europäischen Arten beschränken.
Italien und Frankreich – die wahrscheinliche Heimat des Digestif
Ob es ein historisches Zentrum der Entstehung des Digestifs gibt, ist schwer auszumachen – noch schwerer zu belegen. Doch eine Geschichte bedarf immer eines Anfangs. Zeitlich und räumlich. Und da das untergegangene Römische Reich ein bedeutsamer Knotenpunkt des Austausches zwischen den Kulturen war und damit als intellektueller Katalysator gelten kann; und da es im alpinen Raum des nördlichen Italiens unzählige Kräuter gibt und viele bekannte Digestifs aus Italien kommen, beginnt unsere Reise durch diese vielfältige Welt genau dort.
Italiens bitterer Norden
Die berühmtesten Digestifs der Welt im alten Stile finden sich wohl im Norden des Apennin und berufen sich auf eine bittere Tradition. Der Amaro, die Amari sind eine Kategorie Digestif, die es auf der ganzen Welt gibt – aber nur in Italien dürfen sie sich so nennen. Es gibt unzählige dieser Kräuterliköre und jede Region, gar jedes Städtchen hat seinen eigenen, so typischen Amaro. Doch auch in der Stilistik gibt es vielerlei Unterschiede – vor allem in der Rezeptur, der Kräuterauswahl und damit auch in der Intensität der Bitterkeit.
Legendär und mit magischen Kräften ist der Fernet Branca als berühmtester Fernet (denn dies ist eine gesonderte Subkategorie und ‚Branca‘ der Markenname) nicht nur in den Werbeblöcken der 1990er Jahre. Heutzutage gilt diese Ikone der Digestif-Kultur als Szene-Shot unter Bartendern. In den USA werden mit den Fernet-Games ganze Events unter Kolleg_innen veranstaltet, die sich ausnahmslos um den Bitterlikör drehen.
Doch auch Marken wie Amaro Montenegro, Amaro Lucano oder der Amaro des Hauses Nonino finden sich in hiesigen Regalen. Dazu kommen die großen Marken Averna und Ramazotti, die jedoch schon deutlich milder und auf eine größere Zielgruppe angelegt sind.
Ein besonderer Amaro, der mir ans Herz gewachsen ist, ist Cynar. Dessen bitter-süße Aromatik wird durch die Verwendung von Artischocken hervorgehoben. Und dieses Gemüse ist Sinnbild der norditalienischen Küche. Wer jemals über die dortigen Märkte im Spätsommer schlendert, der sollte Ausschau nach dampfenden Töpfen halten, denn dort werden die Blütenköpfe gegart und gelten als ein beliebter Snack.
Grappa – der berühmteste Tresterbrand der Welt
Ein weiterer berühmter Digestif Norditaliens ist der Grappa. Jener Brand aus den Resten der Weinerzeugung (die Schalen) kann eigentlich in ganz Italien hergestellt werden, doch vor allem im Nordosten schlägt das Herz dieser besonderen Destillate. Marken wie Nonino oder auch Poli gehören zu den bekanntesten und berühmtesten.
Die Stile der Grappas reichen von frischen, klaren ungereiften Destillaten bis hin zu viele Jahrzehnte in Fässern gereifte Brände. Heutzutage ist Grappa aus keinem italienischen Restaurant mehr wegzudenken – hat aber allzu oft auch den Ruf eines rauen Getränks, dass vor allem in mediokerer Qualität als Gratisschnaps am Ende einer vielleicht noch italienisch inspirierten Cucina Alemagna gereicht wird. Doch es gibt fantastische Qualitäten, die entdeckt werden wollen.
Das Latio – Anis und drei Fliegen in einem Brunnen
Im Herzen der Italienischen Republik um die Hauptstadt Rom sind es vor allem Anis-Liköre wie der berühmte Sambuca, welche nach dem Essen genossen werden. Diese süßen Liköre haben Ihren Ursprung im östlichen Mittelmeerraum und werden dort als Ouzo (Griechenland) oder Raki (Türkei) zu kulturellen Heiligtümern erkoren. Sambuca ist da etwas weniger bedeutsam für den Nationalstolz, aber dennoch eine internationale Berühmtheit. Vor allem die Art und Weise des richtigen Trinkens ist unter Freunden dieses Digestifs stark diskutiert. Hierbei geht es um die Frage con la mosa oder nicht. Mit con la mosa (dt. mit der Fliege) ist die Zugabe von Kaffeebohnen gemeint. Diese werden mit dem Sambuca in den Mund genommen, alles wird zerkaut und dann anschließend heruntergeschluckt.
Wie die Kaffeebohnen in den Sambuca kommen ist bis heute umstritten – die schönste Geschichte jedoch pflegte mein alter Mentor Hasi im Potsdamer Barometer immer zu erzählen:
Während der Dreharbeiten zu “La dolce Vita” (1960) musste der berühmte Trevi Brunnen in Rom grundgereinigt werden, da Anita Ekkberg für eine legendäre Szene darin baden sollte. Nachdem der Drehtag endete, fand einer der Mitarbeiter vom Set drei tote Fliegen in dem ach so penibel gereinigten Brunnen und warf sie mit schelmischer Freude in seinen Feierabend-Sambuca. Ob die Geschichte stimmt oder nicht spielt bei dieser charmanten Anekdote tatsächlich eine fast schon untergeordnete Rolle. Nur das leidige Anzünden von Sambuca sollte man einfach sein lassen.
Der sonnige Süden
Je weiter man in Italien nach Süden reist, umso sonniger und wärmer wird es. Und es ändert sich mit der Landschaft, dem Wein und der Küche auch die Art des Digestifs. Die bitteren Kräuterliköre des Nordens wollen in unserer Fantasie auch so gar nicht zu den sonnendurchfluteten Zitronenhainen Siziliens passen. Und wenn wir Zitronenhaine im Kopf haben, so ist der Sprung zum Limoncello gar nicht weit.
Die gesamte Amalfiküste entlang wachsen wundervolle Zitronen, deren Schale die intensiven Aromen preisgibt für den berühmten Zitronenlikör, der nicht nur als Digestif hervorragend geeignet ist. Auch in Torten oder zum Eis vermag er ein Stückchen Italien auf den Tisch zu zaubern. Und ganz nebenbei macht ein Limoncello auch einen hervorragenden Spritz, wie uns der vergangene Sommer öfters bewiesen hat.
Vom Süden Europas geht es nun schnell wieder gen Norden in das zweite Land voller berühmter Digestif-Kultur:
Französische Alpen, Mönche und Kräuter
Wie schon in Italien beginnen wir auch in Frankreich die Reise durch die Digestif-Kultur mit den Kräuterlikören der Klöster.
Hierbei sind es vor allem zwei Namen, die internationale Berühmtheit erlangt haben und die man unbedingt kennen sollte: Chartreuse und D.O.M. Bénédictine.
Vor allem der grüne Chartreuse ist eine hochprozentige Berühmtheit und fester Bestandteil der Barkultur (hier erfährst Du mehr über den seit 1605 hergestellten Kräuterlikör). Wenn auch anders, doch nicht minder wichtig ist der Dom Bénédictine. Den als La Grande Liqueur Français vermarktete Kräuterlikör gibt es seit 1863 – seine Geschichte ist aber mindestens genauso alt wie die des Chartreuse. Und wie sein Pendant aus dem Süden, so ist der Benediktiner-Likör, der qua Namen Gott geweiht ist (D.O.M. steht für Deo optimo maximo – zu deutsch: Gott, dem Besten und Größten), nicht nur hervorragend pur zu genießen oder auf Eis. Er ist auch wichtiger Bestandteil der Bar-Kultur und eines der beiden B’s des berühmten B&B (Brandy and Bénédictine).
Die Früchte des Nordens
Auch wenn D.O.M. Bénédictine aus der Normandie stammt, so ist der berühmteste Digestif des französischen Nordens ganz klar der Apfelweinbrand Calvados. An der Küste des Ärmelkanals, wo London näher scheint als die eigene Hauptstadt wird Cidre zu Calvados destilliert. Hier in der Region gehört er zu jedem Essen dazu. Doch Calvados ist nicht gleich Calvados und so spielen Terroir, Geschichte und Stilistik eine entscheidende Rolle beim berühmten Fruchtweinbrand. Hier haben wir dem Calvados eine ganz eigene Betrachtung gewidmet.
Der König der Tafel
Der berühmteste aller Digestifs im Sinne des noblen Getränks stammt aus einer kleinen Stadt im Südwesten Frankreichs. Cognac mit seinen ca. 18.000 Einwohnern ist das Zentrum der globalen Weinbrandproduktion und die Heimat der berühmtesten Häuser dieser Spirituosenkategorie. Große Namen wie Hennessy oder Remy Martin stammen aus dieser Stadt, die weltweit für Ihre Weinbrände geliebt wird.
Auch zu dieser wahren Ikone haben wir schon einiges geschrieben, dass Du u.a. hier findest.
Im nächsten Teil reisen wir unter anderem nach Deutschland und auf die iberische Halbinsel. Darüber hinaus werden wir uns mit der Frage beschäftigen, warum der Digestif an Glanz verloren hat und wie seine Zukunft aussehen könnte. Auch das Thema Cocktails wird ein wichtiger Bestandteil sein. Also sei gespannt und melde Dich doch einfach bei unserem Newsletter an um keinen Artikel zu verpassen.
2 Kommentare
Ein wirklich sehr gelungener, unterhaltsamer und vor allem informativer Artikel. Danke Dir, lieber Thomas, für deine akribische Recherche und deinen kurzweiligen Schreibstil.
An euch, liebes Team von Glas und Teller, ebenso mein Dank für eure Seite und all die anderen lesenswerten Artikel,
Ihr habt auf jeden Fall einen neuen Fan gewonnen.
Ich freue mich auf weitere Informationen zu meinen Leidenschaften.
Beste Grüße
Peter Schütte
Vielen lieben Dank lieber Peter! Schön, dass dir das Projekt gefällt! Wir freuen uns, dich als Leser gewonnen zu haben. Liebe Grüße. Thomas