Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Geschichte der Aperitif-Kategorie des Vermouths oder Wermuts – jener gewürzten Weine, die Ihren Ursprung im Handel auf der chinesischen Seidenstrasse haben und heute aus keiner Bar und der Cocktailkultur mehr wegzudenken sind. War es früher eine Sorte, die irgendwo im Rückbuffet anstaubte, so erleben wir heute eine wahre Renaissance dieser Kategorie. Ursprünglich auf spirit-ambassador.de erschienen, beträgt die ungefähre Lesezeit ca. 11 Minuten.
„Mach den Vermouth nicht so günstig, ansonsten sitzen die alle immer rum und halten sich daran fest“. Dieser wohlgemeinte Rat ist keine zehn Jahre her und kam von einem äußerst erfahrenen Barmann, der mir damals Ratschläge gab beim Schreiben meiner ersten Barkarte. Es war ein anrüchiges Getränk, man brauchte es für Martinis und Manhattans, aber eigentlich wollte man sich damit nicht tiefer beschäftigen. Es war ein notwendiges Mittel in Kombination mit Gin oder Whisky, dessen Eigenleben jedoch nichts zählte. Schlimmstenfalls war es ein arme Leute Drink – auf Eis mit Zitronenscheibe. Heute zählt Vermouth zu den am schnellsten wachsenden Kategorien im Weinbusiness. So ändern sich die Zeiten. Und eben über diese verschiedenen Zeiten in der Geschichte des Vermouths muss gesprochen werden, wenn man einen der berühmtesten Aperitif-Weine der Welt verstehen möchte.
China, Indien und die Seidenstraße
Vermouth – oder in der deutschen Schreibweise Wermut – ist per Definition nichts anderes als ein aromatisierter und fortifizierter Wein. Drei Eckpunkte sind historisch und technisch davon relevant: Wein, aromatisiert, fortifiziert – und tatsächlich auch in dieser historischen Abfolge.
Schon lange bevor wir in Europa aromatisierte Weine zu uns genommen haben, finden wir Verweise auf deren Existenz im entfernten China. Dort entdeckte man in den Ausgrabungen der alten Stadt Jiahu – in der heutigen Provinz Henan – vor einigen Jahren Krüge mit aromatisierten Weinen aus der Neolithischen Ära – einer Zeit ungefähr 6.200 bis 5.600 Jahre vor Christi. Diese aromatisierten Weine wurden mit Hilfe der Radiokarbonmethode in ihrem Alter bestimmt und ihre Zusammensetzung auf molekularer Ebene analysiert. Dabei stellte man fest, dass diese Reisweine mit verschiedenen Gewürzen und Kräutern versetz waren. Dies sind die ältesten Hinweise auf die Anreicherung von Wein mit Gewürzen und damit so etwas wie der Ursprung des heutigen Vermouths.
Doch nicht nur in China lassen sich solche Hinweise finden. Aus der gleichen Epoche gibt es Spuren davon in Indien und im heutigen Iran. Es muss also eine bedeutende Kunst gewesen sein, Weine – aus welchen Grundstoffen auch immer – mit Gewürzen zu aromatisieren. Der Hintergrund dafür lag zumeist im Rituellen, vielleicht auch im Medizinischen. Wir finden im Übrigen die ältesten Verweise auf die klassische Weinbereitung auch in dieser Phase – ca. 6.000 v. Chr. in Georgien.
China, Indien und der Orient sind nicht nur heute exotische Reiseziele und versprechen uns mystische Erfahrungen, in weit vergangener Zeit waren diese Regionen – aus europäischer Sicht – noch viel reiz- und geheimnisvoller, kamen doch seltene und wertvolle Produkte aus diesem weitentfernten Teil der Erde.
Spätestens seit den Reisen Marco Polos über die legendäre Seidenstraße verbindet sich die Produktvielfalt Europas mit der Vorder- und Hinterasiens zu einem Geflecht voller Austausch und Entwicklung. Es ist eben jene Seidenstraße, über die viele der Gewürze, die wir heute in Vermouth – aber auch aus dem Gin kennen, nach Europa kamen. Doch bevor sich diese Route etablierte, gab es schon einen regen Austausch zwischen den Gelehrten zur Zeit der griechischen Vorherrschaft im Mittelmeerraum.
Das antike Griechenland – Hippocrates
Eine der bedeutendsten Gelehrten und Mediziner seiner Zeit – des 4. Jhd. v. Chr. – war der Grieche Hippocrates. Auf ihn geht zum Beispiel der bis heute bedeutende hippokratische Eid der Mediziner zurück. Hippocrates selber konnte auf viele unterschiedliche Ansätze zurückgreifen, denn sein Wissen schöpfte sich aus verschiedenen Kulturen. In seinem ganzheitlichen medizinischen Verständnis des menschlichen Körpers spielten Heilmittel eine wichtige Rolle und eines dieser Mittel war absinthium– heute bekannt als Wermutkraut. Angeblich – so schrieb es Plinius der Ältere 77 n.Chr. in seiner naturae historiarum – verarbeitete Hippocrates dieses erstmalig in einem Wein. Dieser vinum absinthianum ist der erste, verbriefte Beweis über die Herstellung von – mehr oder weniger – Vermouth.
Neben diesen beiden wichtigen, historischen Autoren muss man einen dritten erwähnen, der viel später für die Entstehung des modernen Vermouths unsagbar wichtig wurde. Er war Zeitgenosse Hippocrates’ und Plinius‘: Pedanius Dioscarides. In seiner materia medica strukturiert der wichtigste Pharmakologe seiner Zeit die damals bekannten Heilkräuter und beschreibt diese in Aussehen, Wirkung und Verwendung. Diese Arbeit – gestützt auf die Medizin des Hippocrates soll für viele Jahrhunderte die Grundlage der europäischen Medizin sein, deren Medikamente aus allerlei Kräutern und Gewürzen bestand und die eine Wirkung weit in die Renaissance besitzt.
Wermut als Allheilmittel
Das mythische Kraut – absinthium – gilt über viele Jahrhunderte als eines der wertvollsten und erfolgversprechendsten Naturheilmittel der Ärzte, Scharlatane und Apotheker. Unzählige Mixturen gegen Nervenleiden, Magenprobleme, Appetitlosigkeit oder die Pest wurden auf seiner Basis angerührt. Und da eben jenes Kraut eines der bittersten natürlichen Aromastrukturen bereithält, war es nur natürlich, dass die Leute schnell auf die Idee kamen, diese Wunderwaffe der Medizin so aufzubereiten, dass sie trinkbar wurde – wie so oft in der Geschichte sind alkoholische Getränke da ein guter Weg, die bittere Medizin schluckbar zu machen.
Das römische Reich – zwischen Geheimnissen und Austausch
Mit dem Untergang der antiken Welt und dem Verlust der griechischen Vormacht im Mittelmeerraum geriet eine andere Region in den Fokus, bzw. bestimmte den Handel: das römische Reich. Und mit ihm im Laufe der Zeit auch das neue, durch das Dreikaiseredikt im Jahr 380 zur Staatsreligion erklärte Christentum. Diese im Verborgenen geborene Religion generiert sich als äußerst strenge und effiziente Geheimhaltungsgesellschaft. Durch die vorangetriebene Christianisierung im Namen des römischen Reiches kam es erneut zu einem regen Austausch zwischen den Völkern und Regionen der alten Welt, welcher immer mehr dazu führte, dass neue Produkte, aber auch innovative Arbeitstechniken Verbreitung fanden. Eine dieser magischen Wissenschaften, die sich im Schatten der Bibel europaweit verbreitete war die Kunst der Destillation – die Grundlage für das Fortifizieren von Weinen.
Die Entdeckung der Destillation
Die Geschichte der Destillation ist eine spannende und zugleich lange Geschichte, deren genauere Betrachtung hier keinen Platz finden kann. Aus Mesopotamien kommend, war sie schon den Griechen bekannt, aber erst Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts wurde aus ihr ein Handwerk zur Herstellung für den Genuss gedachter Produkte. Zuvor destillierte man allerhand Medizin, Parfüms oder versuchte sich an sonstigen alchemistischen Experimenten. Doch für uns bedeutend ist die Herstellung von hochprozentigem Trinkalkohol, denn damit war das Fortifizieren von Weinen überhaupt erst möglich.
Die Renaissance – Europa entdeckt die Welt
Die Seidenstraße – im 14. und 15. Jahrhundert die vielleicht wichtigste Handelsroute der Welt – endete mehr oder weniger in Venedig und von dort wurden die wertvollen Gewürze in Europa gehandelt. Dementsprechend saßen die Händler Venetiens auf so etwas wie einem Monopol. Dies änderte sich mit dem Aufkommen der Seemächte auf der iberischen Halbinsel. Spätestens mit der Entdeckung des Seeweges nach Indien durch Vasco Da Gama 1498 gab es eine Alternative zum Landweg und damit verlor die Republik Venedig – Italien gab es damals so noch nicht und das römische Reich zerfiel schon viele Jahrhunderte vorher in kleine Königreiche und Republiken – ihre Vormachtstellung. Wie auch heute bedeutete damals die Aufweichung eines Monopols die deutliche Vergünstigung der Produkte. Waren noch wenige Jahre zuvor Gewürze unsagbar teuer und nur etwas für die Reichsten, so etablierte sich allmählich eine Mittelschicht und damit auch ein größerer Kreis von Konsumenten.
Die Zeit der europäischen Expansion brachte viele Fortschritte mit sich, einige durch Zufall, bzw. durch Entdeckung, andere durch neu aufkommende Notwendigkeiten. Eine dieser Neuerungen war die Haltbarmachung von Weinen. Die langen Seefahrten und damit das Meersalz machten viele Weine untrinkbar – ihr Alkoholgehalt war einfach zu niedrig, um diese Reisestrapazen auszuhalten. Das Fortifizieren, heute das Abstoppen der alkoholischen Gärung durch Zugabe von hochprozentigem Alkohol erzeugte die damals neu aufkommenden Weine der Seefahrernationen: Sherry, Port oder Madeira.
Die Renaissance ist eine bewegende Zeit in Europa. Doch nicht nur an ihren Grenzen wird die Welt neu entdeckt, auch in sich selbst verändert sie sich radikal. Grund dafür ist unter anderem ein Buchdrucker aus Mainz. Johannes Gutenberg revolutionierte den Buchdruck im Jahr 1450 mit seinen metallischen Lettern und sorgte damit für eine deutlich flexiblere und vor allem günstigere Erstellung von Büchern. Auch wenn noch immer die Kirche die Geheimnisse für sich bewahrte, so sollte dies doch die Welt für immer verändern. Auch für die bevorstehende Geburt des Vermouths unserer Zeit war dies eine wichtige Zäsur, war doch eines der Bücher, die im Zuge dieser Entwicklung gedruckt und verbreitet wurde die materia medica von Pedanius Dioscarides, welche 1544 ins italienische Übersetzt wurde.
Bücher über Bücher
Eine wichtige Metropole der damaligen Zeit war die Stadt Turin, welche 1563 zur Hauptstadt des Königreichs Savoyen ernannt wurde. Dieses besondere Konstrukt war geprägt von einer franco-italienischen Zusammenführung vieler bedeutender Regionen und Städte. Das Piemont, Nizza oder später Genf waren Teil dieses Königreiches, welches durch die Verbindung vieler mächtiger Städte zu einer wahren Macht anwuchs. Schon bevor Turin – eine der wichtigsten Orte italienischer Aperitif-Kultur zur Hauptstadt wird, veröffentlicht 1555 – etwas mehr als zehn Jahre nach der italienischen Veröffentlichung des Buches von Dioscarides – ein gewisser Girolamo Ruscelle aus Venetien ein Buch, welches bis heute umstritten ist in seiner Bedeutung für die Herstellung von Vermouth: Secreti Nouvi. Als Alessio d’Piedmont wird er berühmt, doch es gibt nicht wenige Stimmen, die behaupten, er hätte selbst keine neuen Erkenntnisse beigetragen, sondern einfach nur zusammengeschrieben, was damals bekannt war. Sollte dieser Vorwurf stimmen, so gilt es, seine Leistung dennoch zu würdigen, denn dieses Buch macht das Wermutkraut zum zentralen Thema und gab damit einen Schub für die alsbald einsetzende Vermouth-Produktion.
Ebenso wie das 1773 von Cosimo Villifranchi veröffentlichte Werk oenologia toscana, welches den Grundstein für die Bedeutung der Weinregionen Norditaliens setzte und außerdem die Werke Plinius‘ und Dioscorides‘ wieder aufgriff. All dieser Wissenszuwachs zur Zeit der Renaissance führte am Ende dazu, dass ein 1765 geborener Sohn piemontesischer Abstammung den ersten modernen Vermouth unserer Zeiten vermarkten wird.
Carpano Classico
Der Name Antonio Benedetto Carpano ist so unendlich eng an die Geschichte des Vermouths heutiger Provenienz gebunden, wie wohl kaum ein zweiter. Geboren in der Gegend um Biellese – rund 70 km nordöstlich von Turin im Bergland des Piemont. Schon daheim erlernte er vermutlich die Herstellung von Likören und Kräutermischungen und in jungen Jahren ging er nach Turin, um für Signor Marendazzo in dessen Weinladen zu arbeiten. Hier entstand auch seine berühmte Rezeptur, welche er 1786 als Vermouth di Torino begann, in die Häuser der umliegenden Aristokraten zu verkaufen. Schnell wurde sein Vermouth-Wein stadtbekannt und alsbald auch weltberühmt. Heute gilt Carpano Antica Formula als einer der bekanntesten Vermouths der Welt und findet sich in so ziemlich jede Bar – ob daheim oder professionell betrieben.
Der junge Antonio war mit Sicherheit nicht der erste, der einen solchen Wein produzierte – dagegen sprechen alle literarischen Anzeichen – er war aber wohl der erste, der sein Produkt erfolgreich vermarktete und somit zu Recht als der Vater des modernen Vermouths gelten kann.
Andere Häuser
Schnell wurde sein Vermouth berühmt – so sehr, dass der Herzog Vittorio Amadeo III angeblich einen ganzen Jahresvorrat erwarb. Auch wenn es einige Jahre dauerte, aber dieser Erfolg brachte viele andere Weinhändler dazu, eigene Vermouth-Weine zu produzieren und so entwickelte sich in und um Turin Jahren eine bedeutende Industrie. Eine der größten Konkurrenten – die Firma Cora der Gebrüder Luigi und Giuseppe eröffnete 1838. Ihnen folgten Gancia (1850), Cinzano (1860) und die Firma Martini (1863). Sicherlich gab es viele andere Unternehmungen, doch diese Namen sind bis heute berühmt und bestimmen das Geschäft mit Vermouth zum Teil noch immer.
Französische Weine
Doch nicht nur in Norditalien begann eine wahre Vermouth-Welle – auch im heutigen Frankreich entstanden beizeiten Interpretationen des immer noch als Heilmittel geltenden Weines. Dies lag vor allem an der bestehenden Staatenstruktur – schließlich existierte das Reich Savoyens noch bis in das 19. Jahrhundert hinein und so verwundert es nicht, dass das Wissen des Piemonts auch in den französischen Teilen des Gebietes Anklang fand.
Schon 1813 entwickelte Jospeh Noilly seinen weißen Vermouth, der seit der Eingliederung seines Schwagers Claudius Prat 1843 als Noilly Prat die Instanz im weißen Vermouth-Segment darstellt.
Italien vs. Frankreich
Italien und Frankreich gelten zu Recht als die beiden bedeutendsten Länder, wenn es um die Herstellung von klassischem Vermouth geht. Doch worin unterscheidet sich der jeweils eigene Stil? Es muss schließlich ganz klare Kriterien geben, findet man doch in alten Barbüchern fast immer nur die Formulierungen italien vermouth oder french vermouth.
Grundsätzlich kann man sagen, dass italienischer Vermouth zumeist rot ist und deutlich mehr Süße aufweist, als die mehrheitlich weißen, trockenen Pendants aus Frankreich. Dies jedoch hat nichts mit der Weinbasis zu tun – nichts mit Rotwein und Weißwein – denn Vermouth wird fast immer auf Basis trockener, säuredominierter Weißweine gemacht. Allen voran Trebbiano (in Frankreich Ugni blanc genannt), Picpoul oder Macabeo (Spanien). Die Farbe – und damit auch die unterscheidende Süße kommt vor allem durch die Zugabe von Karamell in die Flasche – welcher als Gegenspieler zum bitteren Wermutkraut agiert.
Jedoch muss man zugeben, dass in der Geschichte des modernen Vermouths die aromatische Rolle von Artemisia absinthium immer weiter rückläufig war. Dies liegt vor allem daran, dass im Zuge der entstandenen Aperitif-Kultur – auf beiden Seiten der Alpen – der Genuss von Vermouth deutlich bedeutender wurde als seine medizinische Wirkung.
Der Cocktail
Einen bedeutenden Schub erlangte Vermouth vor allem durch die Entstehung der US-amerikanischen Cocktail-Kultur. Zwischen den beiden Küsten der neuen Welt kann man, seit vielen Generationen wohl kaum eine Bar finden – wahrscheinlich sogar nicht einmal eine Kneipe; in der es keine Flasche Vermouth gab und gibt. Schnell wurden diese Weine nämlich nach ihrer Entwicklung exportiert und Drinks wie der Martini oder der Manhattan wären ohne die italienischen und französischen Aperitifweine nicht denkbar. Doch genau diese enge Verbindung war es auch, welche Vermouth Ende des 20. Jahrhunderts an den Rand der Bedeutung brachte.
Drinks ohne Vermouth – ohne was?
Die 80er und 90er Jahre – ja selbst die ersten Jahre des neuen Jahrtausends waren geprägt durch fruchtige, verspielte Cocktails im Stile eines Tequila Sunrise‘ oder eines Watermelon Man’s. Klassische, Vermouth erfordernde Drinks waren fast in Vergessenheit geraten. Und so erging es dem Vermouth in den Rückbuffets dieser Welt nicht sonderlich gut. Meist angestaubt in irgendeiner Ecke stehend – schlimmstenfalls direkt über der Kaffeemaschine – oxidierten diese Weine vor sich hin und wurden nicht verstanden. Sie wurden nicht verstanden, weil Sich kaum jemand dafür interessierte. Diese Ignoranz sollte später dazu führen, dass bei der Bestellung eines Martinis stets und ständig nachgefragt werden musste, ob es sich dabei um den Cocktail handeln sollte, oder die berühmte Vermouthmarke aus Italien. Zeitzeugen werden sich äußerst ambivalent an diese Phase der Cocktailrenaissance erinnern.
Es waren vor allem ältere Damen, die dafür sorgten, dass zumindest alle paar Monate eine neue Flasche Vermouth bestellt werden musste – meist getrunken auf Eis mit einer Scheibe Zitrone. Natürlich in einem Martini-Glas – da ist sie wieder, die Ambivalenz. Es war ein günstiger Genuss, der seine Wirkung nicht verhehlte, aber im Gegensatz zu harten Spirituosen doch bekömmlich war. Im hohen, wie auch im jungen Alter. Und so muss auch ich gestehen, dass Vermouth oft das Mittel der Wahl war, um Abende im Freundeskreis lustig zu gestalten. Damals vor allem mit Tonic und Limette getrunken – vorwiegend Cinzano. Das muss so Anfang der 2000er gewesen sein – quasi eine Art unbewusstes Trendsetting. Vermouth & Tonic? Heute eine gängige Bestellung an den Bars dieser Welt.
Italienische Beständigkeit und Einfachheit
Den Italienern sind solche Geschichten egal. In der Apero-Kultur des Appenins kann man über solche traurigen, bzw. von Unwissenheit geprägten Zeiten nur müde lächeln – am besten mit einem Vermouth im Glas. Auf Eis. Hier, in der Heimat der Aperitif-Kultur gehören die gespritteten und gewürzten Weine seit ihrer Popularisierung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zum gesellschaftlichen Leben dazu. Egal ob auf Eis genossen, pur oder in einem Spritz.
Renaissance – ein bezeichnendes Wort
Doch die Zeiten sollten sich auch außerhalb Italiens ändern. Mit der einsetzenden Cocktail-Renaissance Ende der 2000er Jahre und der Rückbesinnung auf klassische Rezepturen geriet auch wieder Vermouth in das Blickfeld der Barszene. In den letzten Jahren etablierten sich immer mehr Marken, die nicht nur aus der alten Heimat des Weines kommen. Eine Welle von modernen Interpretationen – bei der teilweise das Wermutkraut deutlichst in den Hintergrund geriet – ermöglicht eine breite Aromenpalette.
Es ist ein bisschen wie in der Geschichte von Hans Christian Andersen – das vermeintlich hässliche Entlein ist flügge geworden und entpuppt sich als strahlender Schwan. Es ist dies die Geschichte einer zweiten Renaissance, einer gustophilen Neuzeit an den Bars dieser Welt. Einer Welt, in der Vermouth nicht wegzudenken ist.