Diese Einführung in die Welt des Calvados ist auf einer Reise quer durch die Normandie entstanden und stellt den Auftakt zu einer tieferen Beschäftigung mit der Spirituose Nordfrankreichs dar. Ursprünglich auf spirit-ambassador.de erschienen ist dies auch der Beginn einer wahren Liebe zu dieser Region und dieser Spirituose. Die durchschnittliche Lesedauer beträgt 5 Minuten.
Dass ich mal mit dem Auto durch den Pariser Stadtverkehr hetzten würde, nur um einen Heimflug in Paris Charles de Gaulle zu bekommen ist jetzt nicht so grundsätzlich aus der Luft gegriffen. Cognac, Champagner, Armagnac und fantastische Weine locken einen immer wieder in die grand nation. Im Prinzip wäre selbst ein Kurztrip zum Frühstück nach Paris völlig erklärbar – doch meine Reise führte mich in den weiten Norden des Landes. Dort, wo eine Architektur das Bild prägt, die einen permanent glauben lässt, man weile in England. Doch der wahre Grund meiner Reise in dieses Paradies, welches sich Tolkien in „Herr der Ringe“ nicht romantischer und kitschiger hätte ausdenken können ist ein anderes: Calvados.
Calva was?
Calvados hat man schon mal gehört. Irgendwas mit Äpfeln und aus Frankreich. Doch dann hört es meistens schon auf. Meine erste Begegnung mit diesem normannischen Kulturgut hatte ich vor vielleicht 8 bis 9 Jahren. Ich arbeitete in einer Bar zu deren illustrem Stammpublikum ein Reservist der Bundeswehr zählte – deutlich älteren Datums; welcher stets sein Glas Rotwein oder derer drei trank, bevor es abschließend einen Calvados und einen kleinen Kaffee gab. Dieser Herr war meines Erinnerns nach der einzige Grund, warum diese eine Flasche regelmäßig nachbestellt wurde. Meine nächste Begegnung und damit auch jene, die ein erstes ernsthaftes Interesse weckte war eine Probeflasche unseres damaligen Weinhändlers. Dieser brachte uns einen Hors d’Age aus dem Hause Dauphin mit – und das war etwas völlig anderes. Da war auf einmal Frucht zu schmecken, Holz paarte sich damit zu einer wahnsinnig spannenden Komplexität.
So also ging Calvados auch, nämlich in gut. Zu verkaufen war er jedoch schwer. Mal als Digestif zu einem Kaffee dazu – Cafe Calva kannte man wohl aus den Erzählungen der Alten; aber interessiert hat es eigentlich niemanden. Eine erst kräftigere Rotation dieser Kategorie erfolgte über zwei, drei klassische Cocktails aus dem Savoy Cocktailbuch; darunter vor allem der Angels Face Cocktail.
Während Whisk(e)y und Rum, ja sogar Tequila und Cognac immer populärer wurden, fristet Calvados jedoch ein trauriges Dasein. Warum eigentlich – oder besser: warum sollte sich das ändern? Um auf diese – und viele andere Fragen eine Antwort zu bekommen flog ich nach Frankreich und näherte mich vor Ort dem unbekannten Mysterium Calvados.
Wenn Paris weiter weg als Südengland ist
Eigentlich sind es nur knapp 2 Stunden von Paris bis in das Herz der Normandie, das Pays d’Auge. Von dort vielleicht nur knapp eine Dreiviertelstunde bis an die Küste des Ärmelkanals. Während man über romantische Landstraßen durch das Land fährt, vermisst man eines mit jedem Kilometer mehr: Apfelbäume. Wenn man hier 16.317 hL (in 2016) Calvados im Jahr produziert, dann erwartet man – und irgendwie will man das auch nach all den Postkartenmotiven – tausende jener. Angeblich stehen sogar 7 Millionen davon in der Normandie, doch irgendwie sind die Bäume einfach nicht zu sehen. Dafür entwickelt sich das Bild einer mehr als pittoresken Architektur, die sich zwischen kalkverputzten Fachwerkhäusern über Sandsteinbauten bis hin zu lehmverdeckten Häusern verändert. So unterschiedlich die Stile auch sein mögen, eines haben sie jedoch gemein: man hat ständig das Gefühl in England zu sein statt in Frankreich.
Die normannische Kultur, die Flagge – hier gab es sogar einen wissenschaftlichen Flaggenstreit, die Architektur; überall lasst sich eine Nähe zu England finden. Und tatsächlich betrachtet man hier die Engländer eher wie entfernte Cousins und Cousinen als üblicherweise Wilde aus dem Norden. Man ist dem Lake District oder der Küste Südenglands näher als Paris – und das zeigt sich vor allem an der Bauweise.
Dass diese sich ändernde Bauweise tatsächlich auf eigene Art mit Calvados zusammenhängt, wird spätestens bei der Beschäftigung mit dem Terroir deutlich – dies jedoch erfolgt an anderer Stelle.
Doch wo sind in dieser schier verwunschenen Welt nun die Apfelbäume? Hier und dort offenbart sich mal der Blick auf einige Wenige, zumeist jedoch fährt man durch ein gefühlt ewig grünes Labyrinth aus Hecken. Spätestens an der Küste, in solch bezaubernden Badeorten wie Trouville-sur-Mer oder Houlgate beginnt man zu verstehen. Wind bricht kontinuierlich über das Land hinein. Und dieser Wind ist häufig stürmisch. Im Jahre 1987 war es das letzte Mal besonders schlimm, es wurden tausende Bäume zerstört und damit die Arbeit von Generationen gefährdet. Mit diesem Wissen erklärt sich auch das Labyrinth, schützen die zahllosen Hecken doch einfach die Landschaft. Ein weiterer Nachtteil des scheinbar permanent wehenden Windes ist die Gefahr eines Sonnenbrandes. Das hat weniger mit Calvados zu tun, bleibt jedoch wohl in Erinnerung.
Ab durch die Hecke: von Äpfeln, Weinen und Bränden
Wenn man verstanden hat, dass die Welt der Äpfel gleich hinter den Hecken beginnt, so ist es nur ein kleiner Halt an einem beliebigen Straßenrand und man taucht ein die Weiten der Apfelplantagen. Mal hochgewachsen, häufiger jedoch niedrig angebaut reihen sich tausende von Apfelbäumen neben- und hintereinander. Verschiedenste Sorten, süße, saure, bittere und halb-bittere Varianten, mal mit Kühen, mal mit Schafen und häufig ohne Tiere darunter. Hier also schlägt das Herz von Calvados, auf den unzähligen Plantagen zwischen Le Havre, Cherbourg, Avranches und Domfront. Doch es ist ein weiter Weg vom Apfel bis hin zum fertigen Calvados. Der wohl bedeutendste Zwischenschritt ist Cidre. Was völlig logisch klingt, ist es jedoch erst, wenn man sich damit tiefer beschäftigt. Und auch dieses Zwischenprodukt hat es in sich und ist eine genauere Betrachtung wert. Hat man sich dann entschieden, welcher Cidre in Flaschen gefüllt wird und welcher zu Calvados weiterverarbeitet wird, so geht es zur Destillation und später in die Fässer. Und an jeder dieser Stellschrauben kann man die Art und vor allem Qualität des späteren Calvados entscheidend beeinflussen.
Eine versteckte Schönheit hinter einer Menge Arbeiterklischees
Der ehemalige Bundswehroffizier war sicherlich kein typischer Vertreter der Arbeiterklasse – schließlich war er Offizier; jedoch trank er das typische Getränk mit Calvados: Café Calva. Eines der einfachsten Getränke, welches gegen Schmerzen, Müdigkeit und Kälte hilft. Ein klassisches Getränk der französischen Arbeiterschicht des Nordens, welche keine allzu großen Ansprüche an den Calvados stellt. Doch hinter all den vielen kleinen Stellschrauben kann ein Produkt entstehen, welches Whisky, Rum oder Cognac in nichts nachsteht. Komplex, kompliziert und unendlich vielseitig offenbart sich diese größtenteils vergessen Spirituose. Und wer einmal in den Genuss eines 25-Jährigen Lecompte oder eines Vintage Calvados von Dupont gekommen ist, der erkennt und versteht die eigentliche Großartigkeit dieser Spirituose. Doch leider gibt es hierzulande kaum die Möglichkeit dazu.
Quo vadis?
In die Normandie aufgebrochen bin ich mit 1000 Fragen. Heim kam ich mit 800 Antworten und 2000 neuen Fragen. Die Schönheit von Calvados liegt wohl nie so offensichtlich auf der Hand. Es ist wohl immer eher eine Liebe auf den zweiten Blick, dafür eine dauerhafte. Dieses Stück Frankreich hat mich in seinen Bann gezogen. Nicht nur Cidre und Calvados, auch das Essen, die Landschaft und vor allem die Menschen. Menschen wie Marie Agnes Herout oder Guillaum de Verdun von Calvados Coquerel. Sie haben mir ihre Region gezeigt und mich an Ihrer Leidenschaft für Calvados teilhaben lassen.
Und ja, all dies war es wert, sich waghalsig durch die Rush-Hour von Paris zu schlängeln, in dem Versuch den schier unerreichbaren Heimflug zu bekommen. Sehr erfolgreich im Übrigen, bei 90 Minuten Verspätung der Maschine.