Er gilt als der berühmteste Drink der Welt: der Martini Cocktail. Doch seine Geschichte ist bis heute niemals eindeutig aufgeklärt worden. In diesem Porträt des King of Cocktails versuchen wir eine mögliche Entwicklung zu skizzieren. Ursprünglich erschien dieser Artikel auf spirit-ambassador.de und hat eine ungefähre Lesezeit von 8 Minuten.
Der Versuch einer Geschichte oder Wie alles begonnen haben könnte
Einfach und komplex zu gleich – ebenso filigran und wuchtig. Frisch und leicht, aber auch gefährlich und hoch alkoholisch. Viele dieser scheinbaren Gegensätze lassen sich in dem wohl bekanntesten Drink der Welt finden. Der König der Cocktails, wie ihn viele nennen und Abbild eines genießerischen Selbstverständnisses. Kalt, kurz und brillant. All diese Attribute treffen fantastisch auf diese liquide Legende zu: den Martini Cocktail.
Von unsicheren Ursprüngen und wirren Entwicklungen
Wie so häufig lässt sich die Herkunft dieser flüssigen Institution kaum belegen, schon gar sollte man eine Anspielung auf die Originalität jener oder dieser Rezeptur vermeiden. Ihren Anfang nimmt die Geschichte wohl – wie viele andere auch – im Jahr 1806 mit der erstmaligen Erwähnung des Wortes Cocktail in der US-amerikanischen Zeitschrift The Balance and Columbian Repository aus New York. Dort wird am 13. Mai ein Getränk mit dem Namen Cock-tail erwähnt, dessen Ingredienzien Spirituose, Zucker, Bitters und Wasser sind und welche gemischt äußerst belebend wirken. Von dieser generellen Geburtsstunde der Getränke-Kategorie ist es ein langer und spannender, doch leider wenig beschriebener Weg bis zu dem Drink, den heute die ganze Welt kennt.
Es gibt viele Mythen über seine Entstehung und einige sind mit Namen bedeutender Bartender verbunden. War es der vielleicht erste große dieser Zunft – Jerry Thomas, der mit seinem 1862 erschienenen Bartenders Guide – How to mix Drinks und dessen letzter aktualisierten Auflage 1887 den Stein ins Rollen brachte? Oder sein nicht minder berühmter Zeitgenosse Harry Johnson,der 1882 sein Bartender’s Manual herausbrachte? Diese Frage wird sich vielleicht nie abschließend beantworten lassen – es wäre auch fast schon schade, eine klare Antwort darauf zu finden und den Schleier der Geschichten zu lichten. Nicht einmal die Namensgebung ist tatsächlich verbrieft, wobei ein Bezug zur Firma Martini & Rossi die wohl sicherste Verbindung aufweist. Diese 1863 gegründete italienische Vermouth-Marke wurde im Zuge der Globalisierung natürlich binnen kürzester Zeit auch in den Vereinigten Staaten genossen – schließlich findet sich 1882 schon einen Vermouth Cocktail bei Harry Johnson, welcher neben diesem – damals vorwiegend italienischem – Kräuterwein zusätzlich Gomme Sirup, Maraschino und Bitters verlangt. Und nun wird es etwas kompliziert. Nachdem im Jahr 1887 das Buch Jerry Thomas’ posthum aktualisiert wird, taucht dort der Martinez Cocktail auf, der zusätzlich einen Old Tom Gin verlangt. Das Ganze – für damalige Verhältnisse – klassisch geschüttelt, abgeseiht und mit einer Zitronen-Scheibe versehen. Wiederum nur ein Jahr später – 1888 – erscheint eine neue Ausgabe der Rezeptsammlung Johnson’s.
Dort taucht nun erstmalig der Martini Cocktail auf, welcher zusätzlich zu den geforderten Bestandteilen des Martinez ein paar Spritzer Curaçao oder Absinthe verlangt. Diese Erweiterung ist für damalige Umstände sehr natürlich, waren Bartender doch nicht weniger kreativ und süchtig nach Neuerungen wie heute. Absinthe und andere exotische Liköre fanden gerade den Weg in die Bars Amerikas und wurden natürlich umgehen in bekannten Rezepturen verarbeitet.
Von Süß bis heute – ein Geschmack verändert sich
Die häufig angeführte These der Abstammung des Martinis aus dem Martinez ist bei genauerer Betrachtung tendenziell in Frage zu stellen. Geschmacklich jedoch ist dies genau der Weg, den diese royale Mixtur genommen haben, wird. Analog zur Entwicklung des Gins vom holländischen Genever über den durch Früchten angesüßten Old Tom Gin hin zum Dry Gin veränderte sich auch der allgemeine Gusto der Konsumenten von Süß hin zu trocken. Wir kennen alle diese Entwicklung, denn an uns selbst lassen sich diese bei den verblassenden Erinnerungen an die ersten bitteren Probeschlücke des väterlichen Bieres oder des ersten Champagners nach jugendlichem Sekt auch entdecken. Die ausgewogene Süße eines Martinez, der nach rotem, italienischem Vermouth (wahrscheinlich Martini & Rossi) verlangt und pariert wird durch die opulente Aromatik des Old Tom Gins; verjüngt sich schon damals zu deutlich trockeneren Abwandlungen.
In der Geschichte des Gins ist hier vor allem der Name Aeneas Coffey zu nennen, welcher 1830 seine Coffey-Still patentieren ließ und somit die industrielle Destillation des Dry Gins ermöglichte. Durch eine Verbesserung im Herstellungsprozess konnte deutlich feinerer und klarerer Alkohol hergestellt werden, dem keine Süße zugeführt werden musste – und später nicht mehr durfte. Etwas früher kam man in der englischen Stadt Plymouth schon auf die Idee, weniger süßen Gin zu produzieren. Im Jahre 1793 begann der Black Frias Mönch Thomas Coates mit der Herstellung eines Dry Gins, den wir bis heute als Plymouth Gin bekommen. Und jener Gin scheint es zu sein, der den Übergang vom süßen Martini und dem Martinez hin zum Dry Martini Cocktail darstellt, den Marguerite Cocktail. Hierfür wird explizit ein Plymouth gefordert, wie auch französischer Vermouth. Beides deutlich trockenere Produkte – man denke nur an Noilly Prat. Auch in Italien beginnt man auf diese Veränderung zu setzen und 1890 wird von Martini & Rossi ein Dry-Vermouth produziert. Neben der geringen Süße unterliegt auch das Verhältnis zwischen Gin und Vermouth einer Veränderung. Während anfänglich eine Mischung aus gleichen Teilen angeboten wurde, veränderte sich die Trockenlegung des äußerst populären Drinks sehr zügig hin zu einem 2:1 Verhältnis zu Gunsten des Gins. Louis Mückensturm, seines Zeichens Bartender und Betreiber von Louis’ Café in Boston ist der Erste, der 1906 in seinem Buch Louis’ Mixed Drinks jene Dry-Variante niederschrieb, die das Grundgerüst modernen Martini-Trinkens darstellt, obwohl auch er noch auf ein paar Spritzer Curaçao vertraut.
Es dauerte nicht lange, bis sich zu der Trinkweise auch das Glas gesellt, welches auf der ganzen Welt mit dem König der Cocktails assoziiert wird, denn Anfang des 20. Jahrhunderts wird dieses immer populärer und ist sogar bis heute Namensgeber für eine ganze Kategorie von Drinks – den sogenannten MarTINIS. Doch bis dahin werden noch einige Jahre vergangen und viele Martinis gerührt oder geschüttelt worden sein.
Über Exil und Thron-Besteigungen
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts brach auch die große Zeit des Martini Cocktails an. Bartender über ganz Amerika verteilt, mixten unterschiedlichste Verhältnisse von Gin und Vermouth, gaben Bitters, Liköre, Oliven oder Zitronenzesten dazu. Ein schier endloser Kosmos, dessen grundsätzliche Richtung jedoch immer mehr auf eine deutliche Gin-Dominanz hinwies. Doch nicht nur in den aufstrebenden USA wurden Cocktails gemixt – auch im alten Europa etablierte sich eine Barszene, die ihren Ausgangspunkt in London hatte. In der Stadt, die heute als die Cocktailmetropole des Kontinents gilt – man denke an legendäre Bars wie das Artesian oder das Nightjar – öffneten sich 1874 erstmalig die Pforten zu einer Cocktail-Bar im klassischen Stile. Das Criterion von Leo Engel legte den Grundstein für eine globale Cocktail-Welle.
Anfang des 20. Jahrhunderts kam diese Welle im großen Stile nach Europa. Waren es noch Liköre und Bitters, die vor einer oder zwei Generationen aus Europa nach Amerika exportiert wurden, kamen sie in modernen Mischgetränken nun wieder in ihre alte Heimat zurück. Italienischer und vor allem französischer Vermouth brachten ihren beliebtesten Partner, den englischen Gin mit. Überall wurden Martinis getrunken, und zwar deutlich trockener als noch vor ein paar Jahren. Ein Verhältnis von zwei Teilen Gin zu einem Teil Vermouth war das Normalste der Welt, häufig wurde sogar noch weniger Vermouth verwand.
Das trockene 20. Jahrhundert
Eine große Zäsur stellte die Zeit der 1920er Jahre dar: die Prohibition. Was als nobles Experiment extremistischer Totalverweigerer ausgerufen wurde, kehrte sich in seiner Wirkung um und sorgte dafür, dass neben organisierter Kriminalität vor allem der Hang und die Leidenschaft für Alkohol in „effizienter Genussform“ stieg. Der Filmemacher Luis Buñuel beschrieb die damaligen Umstände besonders treffend, wenn er anmerkt: „I never drank so much in my life as the time I spent five month in the United States during Prohibition. […] Prohibition was clearly one of the more non-sensical ideas of the century“.
Die Zeit des gemütlichen Trinkens war angesichts zu erwartender Strafen bei polizeilicher Verfolgung beendet, es galt die illegalen Möglichkeiten der Speakeasy Bars zu nutzen und so schnell wie möglich die Wirkung des Alkohols einsetzen zu lassen. Die Drinks wurden kleiner, kürzer und härter. Und immer trockener. Die Prohibition von 1920 bis 1933 ist ambivalent zu betrachten, brachte sie dem Cocktail und der Bar doch auch eine Menge Innovation und vor allem Verbreitung. Die Diaspora der Durstigen machte Havana zur Cocktail-Metropole der Welt, brachte aber auch Paris, London oder Madrid einen gehörigen Zulauf an professionellen Trinkern. Literaten, Schauspieler und Welterklärer bevölkerten die Bars des alten Europas und genossen gemeinsam einen Martini Cocktail nach dem anderen, wobei dieser zunehmend trockener wurde. Eine äußerst populäre Mixtur war der sogenannte „in and out“ Martini, bei dem das Eis im Shaker nur mit Vermouth benetzt wurde, welchen man anschließend ausschüttete, damit nur nicht zu viel davon im Gin landete. Einer dieser extremen Genießer war Winston Churchill, für den es angeblich völlig reichte, wenn sich eine Flasche Vermouth im selben Raum befand, wie sein Martini.
Die 1930er und 40er Jahre waren vor allem durch den zweiten Weltkrieg geprägt, der auf seine ganz eigene Weise auch Spuren im Martini-Glas hinterließ.
I never drank so much in my life as the time I spent five month in the United States during Prohibition
Eine durch den amerikanischen Präsident F.D. Roosevelt – seines Zeichens glühender Verfechter des Martinis. Dieser präsentierte dem sowjetischen Herrscher Stalin auf der Konferenz von Teheran 1943 die Großartigkeit seines später nach ihm benannten FDR-Martinis (Ein Dirty Martini mit einem Barlöffel Olivenlake), wobei der Genosse Stalin etwas missfällig reagiert haben soll. FDR war es auch, der fast 10 Jahre zuvor den ersten legalen Martini Cocktail nach dem Ende der Prohibition mixte. Doch nicht nur der 32. Präsident der USA ist Namensgeber für einen Martini, auch der britische General Bernard Law Montgomery, der Sieger der Schlacht um El Alamain, bleibt uns in liquider Form erhalten. Seine Überzeugung, nur mit großer Truppenüberlegenheit dem Gegner tatsächlich gefährlich zu werden ist es zu verdanken, dass wirklich harte Martini-Trinker bis heute einen Montgomery-Martini bestellen – in einem Verhältnis von 15:1.
Im Auftrag ihrer Majestät – geschüttelt, nicht gerührt!
Die Dominanz des Gins, die Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs, verfestigte sich immer mehr und der Martini Cocktail wurde zu einer kulturellen Instanz, ja vielleicht zu dem kulturellen Exportschlager der Vereinigten Staaten schlechthin. Nicht nur in den Bars trank man ihn, auch daheim etablierte sich eine wahre Cocktail-Bewegung. Hausbars und Cocktail-Partys waren die Begleiterscheinungen der aufstrebenden Mittelschicht der 50er Jahre. Eine heile Welt. Augenscheinlich, denn der Ost-West-Konflikt erwuchs zu einer neuen Bedrohung.
Wie gut, dass es in solchen Zeiten Helden gibt, die für Sicherheit sorgen und auf der richtigen Seite stehen. Einer dieser großen Helden war Brite, gutaussehend und behaftet mit einem Hang zu guten Drinks und schönen Frauen. Sein Name war Bond – James Bond.
Wohl kaum ein Name ist so eng verbunden mit dem König der Drinks, wie der des Geheimagenten seiner Majestät. Sein Getränk der Wahl ist der Vodka-Martini – geschüttelt, nicht gerührt. Der geistige Vater Bond’s, der Autor Ian Fleming lässt im allerersten Roman den Helden einen solchen exakt bestellen:
A Dry Martini he said. One. In a deep champagne goblet.
„Oui, monsieur.“
„Just a moment. Three measure of Gordon’s, one of vodka, half a measure of Kina Lillet. Shake it very well until it’s ice-cold, then add a large thin slice of lemon-peel Got it?“
Der Vesper-Cocktail war damit im Jahre 1953 geboren. Benannt wurde der Drink nach Vesper Lynd, einer Bond-Schönheit, die als Doppelagentin auch für die Russen tätig war. Daher die Doppeldeutigkeit der Spirituosenwahl. Ost und West prallen hier im Glas direkt aufeinander. Dieser Drink, der mit einem ganz deutlichen Brand-Call versehen ist, wurde zum ikonischen Ausdruck des Genusses. Leider ist es uns heute nicht mehr vergönnt, diese originale Rezeptur zu probieren, da besagter Kina Lillet leider schon viele Jahre nicht mehr erhältlich ist. Dennoch ist dieser Drink genauso unsterblich, wie sein Erfinder, obwohl er von Bond so tatsächlich nur einmal bestellt wurde. Ansonsten haben sich unzählige große Schauspieler in dieser Rolle auf der Leinwand durch verschiedenste Drinks und Spirituosen getrunken, doch das berühmte „shaken, not stirred“ gehört zu den bekanntesten Filmzitaten der Hollywood-Geschichte.
Die Filme waren nicht nur ein Werbeträger für stilvolles Trinken, sie waren auch brillant geeignet für product placement. Egal ob Gordon’s oder Kina Lillet, später waren es vor allem Vodka-Marken, die viel von der Aura des Geheimagenten erhaschen wollten.
Es wurden die 60er und 70er Jahre – und damit die Zeit des Vodka’s. Der Vodka-Martini wurde zum Symbol einer neuen Generation, wie es das Destillat aus dem Osten auch wurde. Heute gibt der aktuelle Bond (Daniel Craig) zwar weniger auf die Art der Zubereitung („Do I look like I give a damn“ – Casino Royal 2006), doch es ist natürlich wichtig, welcher Vodka in sein Lieblingsdrink kommt. Im aktuellen Bond-Abenteuer Spectre (kommt am 5.11.2015 in die deutschen Kinos) trinkt er Belvedere Vodka.
Ein Vodka-Martini, damals eine avantgardistische Neuerung, ist genauso zu einem Klassiker geworden, wie sein ursprünglicher Gin-Verwandter. Doch soll uns das Thema Vodka im dritten Teil noch ein bisschen mehr beschäftigen.