Diese Reportage ist während einer Normandie-Reise entstanden und ist das Ergebnis eines Interviews mit Marie-Agnes Herout. Es ist ein Gespräch über das A.O.C., über Cidre und die Zeit, die es benötigt, Calvados zu produzieren. Es ist auch das Protokoll eines wundervollen Tages bei einer fantastischen Frau, die unabdingbar das liebt, was sie macht. Die durchschnittliche Lesedauer beträgt 7 Minuten.
Der Juni in der Normandie zeigt sich von seiner besten Seite. Strahlend blauer Himmel und ein intensives Grün der Natur, soweit man schauen kann. Weit ist dies bekanntlich nicht, da überall Hecken und Wälle den Blick versperren, aber dank dieser ist man auch geschützt vor dem Wind, der einem hier ständig um die Nase pfeift. Ich bin auf den Weg nach Norden der N13 folgend von Caen nach Auvers. Der Sommer lässt die Fahrt wie ein endlos langer Traum erscheinen, der sich zwischen dem Meer und der grünen Tiefe der Normandie hin und hergerissen gibt. Ich bin verabredet mit Marie Agnès Herout, der Besitzerin der Apfelfarm Les Verges de la Chapelle auf der Halbinsel Contentin.
Terroir, Essen und Freundlichkeit
Es ist Mittagszeit und bevor es zu Cidre und Calvados geht, stärke ich mich noch am Rande der Landstraße. Frisches Brot, Käse und Obst – was überall auf der Welt schon als romantisches Picknick gastrophiler Reisender angesehen würde, erfährt in dieser Landschaft eine noch deutliche Steigerung. Zugegeben, alles kommt aus dem Supermarkt in Caen, aber selbst dort gekaufte Dinge scheinen besser, ja regionaler und kulturell verwurzelter zu sein als jede Delikatesse in einem deutschen Fachgeschäft. Frankreich und Essen – ein völlig berechtigter Grund für eine gepflegte Liebe zu unserem Nachbarland.
Der Norden Frankreichs wirkt völlig zersiedelt. Überall finden sich kleine Häusergruppen – manchmal nur ein Hof mit Ställen, manchmal drei, vier Familienhäuser und manchmal kleinere Ortschaften. Er ist landwirtschaftlich geprägt, dieser Flecken Erde von dem man sagt, seine Einwohner sind den Menschen in Südengland näher als den Leuten in Paris. Eines sind sie auf jeden Fall: warmherzig, freundlich und immer mit der Ruhe und der Zeit versehen, einen kleinen Schwatz zu halten.
Calvados is a question of years, so what means one harvest?
Marie-Agnes Herout
Auf meine Anfrage per E-Mail, ob es möglich sei, die Farm zu besuchen musste ich nicht lange warten. Marie-Agnès Herout war schnell bereit, mich zu empfangen und nach einigen suchenden Runden durch diese eine kleine Straßenverwirrung parke ich meinen Peugeot vor der Garage, in der Flaschen auf die Befüllung mit Cidre warteten.
Ein organisiertes Besucherzentrum sucht man hier verzweifelt, aber es gibt einen kleinen Farmladen, in dem man die Produkte von Marie-Agnès kaufen kann und während ich diesen betrete, wird drinnen wild gelacht und geredet. Es sind noch kurz Nachbarn vorbeigekommen, um für den heutigen Abend Cidre und Saft zu kaufen. Schnell werde ich vorgestellt als der deutsche Schreiberling, der sich für Calvados interessiert. Einen kleinen Witz, über den nun wohl anstehenden Ruhm meiner Gastgeberin kann sich die Nachbarin nicht verkneifen. Man verabschiedet sich herzlich und nun hat Marie-Agnès Zeit für mich.
Über Familie und Verpflichtungen
Stolz präsentieren sich im Raum die Auszeichnungen der Cidrerie, welche über die Jahre angesammelt wurden, schließlich produziert man hier seit 1946 eigenständig Cidre und Calvados. Ihre Eltern – Auguste und Marie-Thérèse Herout haben damit begonnen, da schon deren Eltern in diesem Bereich tätig waren. Es ist eine der typischen Geschichten des Norden Frankreichs, angetrieben von Herkunft, Familie und Tradition. Diese Tradition führt die Tochter nun fort. Eine sehr warmherzige, gesellige und offene Frau, die stolz auf Ihre Geschichte ist.
Diese Geschichte beginnt 1946 mit der Umstrukturierung der alten Farm Verges de la Chapelle. Schon ihre Eltern setzten damals auf traditionelle Apfelvarietäten und pflanzten alte Sorten wie Clos Renaux, Cartigny, Binet blanc oder die heute seltene Sorte Grasse Lande an. Damals verkaufte man vorwiegend Cidre in kleineren Fässern an die lokalen Cafés und Restaurants. Erst Mitte der 1970er Jahre, als Flaschenbier immer populärer wurde, entschied man sich, den eigenen Cidre auch in Flaschen abzufüllen und zu vermarkten. Der Umbau und die Renovierung erfolgten und man konzentrierte sich zunehmend auf eine erfolgreiche Geschäftsentwicklung.
Diese Entscheidung sollte wegweisend sein für das Arbeiten und Streben der Tochter, da Tradition hier im Norden von besonderer Bedeutung ist. Denn es entwächst nicht nur ein besonderes Gefühl von und für Zeit, sondern auch eine Verpflichtung. Und diese Art zu denken, wird besonders deutlich, wenn man auf die Bäume zu sprechen kommt.
Das Land und die Zeit
Wir sind ein Stückchen die Straße herauf spaziert und stehen nun in einer Baumplantage der Cidrerie. Am Rand stehen junge Bäume, die gerade erst gepflanzt wurden und weiter hinten alte Gewächse von mehr als 30 Jahren. Dies sei die wahre Besonderheit von Calvados: das Verständnis der Herstellung als ein Projekt von Generationen. Es braucht ca. acht bis zehn Jahre, damit ein Apfelbaum erstmals Früchte trägt, dazu ein Jahr für die Herstellung und Reifung des Cidres und anschließend nochmals fünf bis zehn Jahre der Reifung des Calvados. Vom ersten Apfel bis hin zu einem fertigen Produkt ist es ein langer Weg und genau dies macht diese Spirituose so besonders. Man bekommt eine Ahnung was es heißt, wenn der Wind die Zeit über das Land treibt. Und wie gesagt, Wind gibt es hier viel. Manchmal zu viel. Im Jahre 1987 stürmte es so sehr, dass auf den 10ha, die Marie-Agnès Herout bepflanzt – die meisten davon im traditionellen haute-tiges Prinzip – über 400 Bäume zerstört wurden. Ein Schaden, von dem man sich nur schwer erholte. 2010 war es dann Schnee, der viele Äste zum Brechen brachte und die Arbeit vieler Jahre zerstörte. Aber auch dies sieht man hier oben vielleicht ein wenig gelassener: „Calvados is a question of years, so what means one harvest“. Diese Demut vor der Zeit ist beeindruckend.
Was eine Ernte ganz praktisch bedeutet? Nun bei Herout mit seinen 10 ha Apfelbäumen knapp 100 Tonnen Äpfel. Es ist schon eine größere Plantage unter den Kleinen, aber keinesfalls vergleichbar mit Häusern wie Busnel oder Boulard. Zum großen Teil wird damit Cidre bouche produziert und nur knapp 1/3 wird zu Calvados weiterdestilliert.
Der Cidre bei Herout ist jedoch etwas Besonderes, unterliegt er doch dem erst 2016 geschaffenen IDAC Contentin Cidre A.O.C. – einer eigens für die Region geschaffenen Herkunftskontrolle für Cidre. Dieses A.O.C. wäre ohne die harte Arbeit von Marie-Agnès Herout nicht möglich gewesen, war sie doch eine der federführenden Kräfte hinter der Etablierung dieses Schutzes – schließlich hat sie 16 Jahre dafür gekämpft. Für sie ist das A.O.C. ein Synonym für Tradition. Nur rund fünf Prozent aller französischen Apfelweine unterliegen dem strengen Reglement dafür.
Ein geliebtes Handwerk
Neben den traditionellen Apfelsorten ist es vor allem das Vergären mit Naturhefen, was hierfür bedeutend ist. Nach einer sechs bis 10-Monatigen Fermentation in Stahltanks wird der Cidre entweder der Destillation zugeführt, oder für einen Zeitraum von ein bis zwei Monaten nochmal in der Flasche nachvergoren. Da kein weiterer Zucker hinzugegeben wird ist er damit absolut brut – also trocken. Dadurch gewinnt er diese Eleganz und Raffinesse, die andere Cidre oder Cider häufig vermissen lassen.
Die Destillation des Cidres erfolgt in einer acht Ebenen fassenden Kolonnen-Still, welche Ihr Vater damals von einem Abfindungsbrenner gekauft hat. Ursprünglich mobil, steht diese nun direkt vor dem Laden.
What we produce here os good for what we eat here.
Marie-Agnes Herout
Nach der Destillation wird der Rohbrand in eines der 35 Fässer gefüllt, die im Lagerraum hinter dem Laden liegen. Die Holzauswahl ist für Herout von besonderer Bedeutung, fokussiert man sich hier doch auf gebrauchte Fässer, um dem späteren Calvados ein großes Fruchtprofil zu ermöglichen. Schließlich gehört der Apfel in die Normandie wie der Wind – und dieses gilt es zu präsentieren.
Das Land und die Menschen
Es ist bewundernswert, mit welcher Ruhe und doch gleichzeitiger Hingabe Marie-Agnès Herout über ihre Arbeit, ihr Leben und ihre Region spricht. Viele würden wegziehen von hier, sagt sie. Zu gering sind die Chancen auf einen anständigen Job im Norden Frankreichs. Dementsprechend stehen viele Häuser leer. So auch das große Herrenhaus direkt nebenan. Es steht zum Verkauf und ich muss gestehen, dass ein Leben hier auf dem Contentin verlockend klingt. Angetrieben von der Natur und der Geschichte dieser so besonderen Region, die sich im Übrigen so gänzlich anders darstellt als es das Pays d’Auge tut. Ersichtlich wird es an den Gebäuden, sind diese hier doch viel häufiger mit Lehm verputzt.
Das sei eine der spannenden Beobachtungen in der Normandie, erklärt Marie-Agnès Herout: die Architektur verändert sich alle 50 km. Hier im Marschland des Contentin gibt es halt viel mehr Lehm und Sand als im kalkigen Osten. Es ist das Terroir, welches auf so einfach Art und Weise ersichtlich wird. Und dieser Boden ist es auch, der dafür sorgt, dass die Äpfel hier immer etwas mehr Säure-Struktur aufweisen und von daher wirklich perfekt für wohlgegliederte, unkitschige und filigrane Cidre geeignet sind. Ein Umstand, den man bei Herout deutlich herausschmeckt.
Und eine besondere Verbindung
Terroir ist eine Philosophie, die für Marie-Agnès Herout über die Herstellung ihres Cidres und des Calvados hinausgeht. Es ist eine Einstellung zu Essen und Trinken generell. Sie ist sich gewiss, dass beide Produkte selbst in Frankreich ein Nischendasein führen. Und würde ihre Cidrerie nicht in einer so günstigen Touristenregion liegen – 15 Minuten sind es bis Omaha Beach – und viele Amerikaner, Engländer und Hauptstädter aus Paris hier vorbeikommen; so würde Sie wahrscheinlich deutlich weniger Geld verdienen und hätte es genauso schwer wie viele noch kleinere Häuser. So wie sie ist auch Ihr Produkt ein Kind der Normandie und genauso sollte man es auch verstehen und genießen. Der klassische Cafe Calva ist vielleicht nicht die modernste und hippeste Variante, aber gehört hier nun einmal dazu, auch wenn neuzeitliche Entwicklungen wie Cocktails mit Calvados so schier unendlich wichtig geworden sind, um ein jüngeres Publikum anzusprechen.
Dennoch sollte man bei der Vermarktung auch immer mitbedenken, woher Calvados kommt. Schließlich ist dieses Export-Produkt ja auch ein Botschafter der Normandie im Ausland, denn nur hier wird er hergestellt. Und das Beste, was man zu Cidre und Calvados essen kann, kommt halt auch aus dieser Region: „what we produce is good for what we eat here“.
Wer sich einmal die Zeit nimmt und die nördliche Küste Frankreichs bereist, dem sei ein Besuch bei Marie-Agnès Herout auf der Les Verges de la Chapelle in Auvers unbedingt ans Herz gelegt. Ebenso wie der Cidre und der Calvados.
Offenlegung: Bis auf eine großartige Zeit und zwei Gläser Cidre ist für diesen Artikel nichts geflossen. Die Flaschen wurden selbst erworben.
2 Kommentare
Sehr schöner Artikel!
Nur die URL am Ende führt ganz woanders hin (nämlich in den Elsass), richtig ist http://www.maisonherout.com.
Rasmus
Vielen Dank für Deinen Kommentar. Den Link habe ich geändert – keine Ahnung, wie das passieren konnte. Wobei das Elsass natürlich auch schön ist.