Dieser Artikel dreht sich um eines der meistgehüteten Geheimnisse französischer Trinkkultur. Dieses historische Porträt des Kräuterlikörs Chartreuse wurde ursprünglich auf spirit-ambassador.de veröffentlicht und hat eine ungefähre Lesedauer von 4 Minuten.
Die Verbindung von liquider Hochgeistigkeit und Spiritualität ist nichts Unbekanntes, wurde doch die Herstellung von Alkohol – aqua vitae – vor allem durch Glaubensbrüder des Islam und der römischen Kirche vorangetrieben. So verwundert es auch nicht, dass durch diese Verbindung Produkte entstanden, welche die Zeiten überdauerten und noch bis heute nichts von ihrem geistigen Effekt – in vielerlei Hinsicht – verloren haben. Eine der berühmtesten Spirituosen religiösen Ursprungs ist wohl Chartreuse, der Karthäuserlikör (vertrieben durch das Hamburger Unternehmen Borco). Und dieser feiert jährlich am 16.05. seinen Jahrestag. Dieses Datum ist eine Reminiszenz an dessen Geburtsjahr 1605, doch die Geschichte beginnt eigentlich viel früher.
Sternenregen und Schweigegelübte
Die Geschichte Chartreuse‘ beginnt im Jahre 1084, in dem der Dekan der Universität von Reims – der (später) heilige Bruno sich mit sechs Gefährten auf eine Wanderschaft begab, deren Ziel es war, ein neues und allem Materialistischen entsagendes Leben zu führen. Ihr Weg führte sie dabei in die Nähe von Grenoble, in die Gebirgsregion der Chartreuse – dem Namensgeber des späteren Ordens und seines weltberühmten Likörs.
Die Reisenden trafen dort Saint Hugues, den Bischof Grenobles. Jenem erschienen zuvor in einem Traum sieben Sterne, die auf die Chartreuse sanken und er glaubte in Bruno und seinen Gefährten eben jene wieder zu finden. Diese Begebenheit führte zur Gründung eines Klosters in den Bergen der Chartreuse, der großen Karthause – La Grande Chartreuse genannt. Harte Arbeit kennzeichnete das Leben der ersten Ordensbrüder, doch ihre Lebensweise wurde zum Vorbild und dies ziemlich erfolgreich. Schon 1127 wurden – dank der schnell ansteigenden Anhängerschaft des Ordens europaweit – die Regeln zur Lebensweise durch den Prior Guigo de Chastel niedergeschrieben und gelten kaum modernisiert bis heute. Strenges Fasten, vegetarische Ernährung, intensives Beten und Schweigen – dies sind die Eckpfeiler des Ordens.
Bedeutende Geschenke und stürmische Zeiten
Eines der entscheidendsten Jahre des Ordens war 1605. Damals bekamen Pariser Karthäusermönche ein mehr oder weniger königliches Geschenk. Der Marschall des französischen Regiments von Henry IV. – Francois Hannibal d’Estrées – überreichte den kontemplativen Brüdern ein altes Manuskript, dessen Inhalt aus einem mysteriösen Rezept bestand. Es war so kompliziert und geheimnisvoll, dass selbst diese anfänglich nichts damit anzufangen wussten. Erst mehr als 100 Jahre später gelang es dem Ordensbruder Jerome Maubec – einem Apothekermönch der Grande Chartreuse – das Manuskript zu entschlüsseln. 130 unterschiedliche Pflanzen und Botanicals vereinten sich darin und im Jahre 1737 stellte Maubec das erste Mal jenes Elexier Végétal her, dessen Ruf als Wunderelixier bald über die Mauern des Klosters bekannt wurde. Weisheit und Besonnenheit ließen die Mönche das Rezept geheim halten, so dass angeblich bis heute immer nur zwei Brüder Einsicht haben in den Entstehungsprozess des Likörs mit der tiefgrünen Farbe. Und dies sollte sich in den anstehenden stürmischen Zeiten bewahren, denn Reformation, Revolution und vielerlei andere geistige und weltliche Umstände ließen das Geheimnis immer wieder in Gefahr geraten. Zwischendurch wurde die Produktion in das spanische Tarragone verlegt und unter dem Namen „Une Tarragone“ verkauft. Heute entsteht diese mehr als verzaubernde hochgeistige Flüssigkeit in der Nähe der Grande Chartreuse in Voiron. Dort knüpft man seither an die alten Traditionen an und produziert einen der berühmtesten Kräuterliköre der Welt.
Ein Elixier und viele Möglichkeiten
Neben dem noch heute erhältlichen Elixier Végétal, welches bestens als Cocktailbitter einsetzbar ist, ist es wohl der bekannteste Chartreuse verte, dessen Rezeptur sich aus dem sagenumwobenen Elixier ableitet, der am meisten geschätzt wird. Mit 55% vol. Alkohol ist dieser natur-grüne Likör jenes Zaubermittel, dass nicht nur Cocktail-Enthusiasten auf der ganzen Welt in seinen Bann zieht, sondern – zumindest behaupten dies einige – auch die Barszene Frankfurt am Mains schier unsterblich werden lassen wird. Nirgendwo sonst in Deutschland wird gefühlt soviel dieser Spirituose in ihrer reinsten Form – pur und zügig – getrunken. [Vielen Dank dafür liebste Frankfurter Barkolleg_innen; Anmerk. des Autors.] Chartreuse verte macht tatsächlich alles. Es macht jung, wenn es jung machen soll und alt, wenn es alt machen soll. Es macht gesund, es macht wach und müde, es macht belebt und geistig jubilierend – es macht eigentlich wirklich fast alles. Nur eines macht es bestimmt nicht: nüchtern.
Vielen jungen Connaisseuren ist dieser Trank schon zum Verhängnis geworden und ist bis heute das beste Mittel, den nötigen Respekt vor alkoholischen Genüssen zu verdeutlichen. Natürlich gibt es auch einige Drinks der Weltgeschichte, die ohne diese legendäre Flüssigkeit nicht denkbar wären: der Last Word Cocktail oder der Bijou. Diese grüne Essenz, dessen Farbe völlig ohne Nachhilfe zustande kommt, war sogar hinter dem Eisernen Vorhang berühmt und geliebt und verführte den DDR-Star Lutz Jahoda 1963 zu dem Schlager „Kartäuser Knickebein-Shake“. Die dort beschriebene Wirkung kennt der Frankfurt-Reisende – mit historischen Einschränkungen – nur zu gut.
Stat crux dum volvitur orbis
Neben dieser Ikone gibt es noch eine etwas „entschärftere“ Version in Gelb: Chartreuse jaune. Seit 1838 wird dieser kleine Bruder mit nur 40%vol. abgefüllt und erweist sich als etwas cremiger, süßer und weicher. Weiterhin gibt es einige Spezialabfüllungen wie die V.E.P. Qualitäten. Dabei handelt es sich um länger gereifte Entwicklungsstufen des grünen und gelben Likörs, die jedoch nur in geringer Menge auf den Markt kommen, ähnlich wie die Jubiläumsabfüllungen Chartreuse 1605 Liqueur d’Elixir zum 400. Jubiläum der Rezeptübergabe oder der seit 1984 produzierte Liqueur du 9° Centenaire. Dieser wurde anlässlich des 900-jährigen Bestehens des Klosters kreiert.
Im nunmehr 932. Jahr [Stand 2016] des Klosters erfreut sich der Karthäuserlikör einer stets größer werdenden Fangemeinde, welches nicht zuletzt an der permanenten Entwicklung der Bar- und Cocktailszene liegt. Egal ob in Shortdrinks, Longdrinks, auf Eis oder pur – eines der meist behütetsten Geheimnisse Frankreichs weiß noch heute zu be- und zu verzaubern.
Und auch bis heute gilt, dass nach einigen Gläsern Chartreuse sich die Welt um einiges weiterdreht.