Amer Picon ist eine jener Flaschen, die man nicht zufällig in die Hand bekommt. Dafür steht dieser französische Bitter viel zu selten in den Regalen und auch kaum in den Menüs der Bars unserer Zeit. Schade eigentlich, denn Amer Picon ist ein wirklich herausragender Bitterlikör, der zur klassischen Schule der Cocktailgeschichte gehört. Was dahinter steckt, wie er schmeckt und für welche Drinks Du ihn benötigst, erfährst Du hier in 7 Minuten.
Amer Picon als Bittere Medizin
Wie allzu oft in der Geschichte historischer Liköre, beginnt alles mit dem medizinischen Aspekt einiger Zutaten. So auch im Falle Amer Picons, da dieser Bitter ursprünglich als Malariamittel entworfen wurde. Doch alles der Reihe nach.
Der Schöpfer dieses besonderen Drinks war Gaétan Picon, welcher im Jahr 1809 in Genua geboren wurde. Das heute in Italien liegende Genua war damals unter französischer Kontrolle und so wurde Picon als Franzose geboren. Seine Lehrzeit verbrachte er wohl in Marseille, Toulon und in Aix-en-Provence, wo er sich vor allem mit der Destillation und Herstellung von Elixieren und Medizin beschäftigte, bevor ihn seine militärische Dienstzeit nach Nordafrika verschlug.
Hier, so will es die Geschichte, erkrankte er im Jahr 1837 an tropischem Fieber. Durch seine Ausbildung und einige Erinnerungen an medizinische Rezepte seiner Großmutter ersann er eine Medizin zur Heilung, die vor allem Chinarinde beinhaltete. Um die natürliche Bitterkeit abzuschwächen und das Getränk genießbar zu machen, versetze er es mit algerischen Orangen. Über die wahre Wirksamkeit darf an dieser Stelle gerne spekuliert werden, wie über den medizinischen Gehalt eines Gin & Tonics, doch zumindest wollte die französische Kolonialarmee, dass Gaétan Picon seinen African Amer (wie er ihn ursprünglich nannte) in einem größeren Umfang produzierte.
Afrika, London und Südfrankreich
Durch die Versorgung der französischen Armee erreichte der Bitter schnell eine gewisse Popularität. Gaétan Picon selber war wohl ein bescheidener Mensch, denn er strebte keinesfalls einen großen Erfolg an. Und so weigerte er sich partout, dem Rat lokaler Politiker zu folgen, seinen Amer im Rahmen der Londoner Weltausstellung im Jahr 1862 der zivilen Öffentlichkeit vor zu stellen. Jean-Baptiste Nouvion, der damalige Kolonialverwalter Algeriens, schickte dennoch eine Kiste zur Vorlage und der Amer wurde mit einer Medaille ausgezeichnet.
Dieser erzwungene Erfolg führte zu einer deutlichen Steigerung der Nachfrage – wohlgemerkt immer noch mit dem Produktionsstandort in Algerien.
Erst 1872 zog Gaétan Picon zurück nach Frankreich und eröffnete im selben Jahr eine deutlich größere Fabrik in Marseille. Hier benannte er sein Produkt auch um in den noch heute bekannten Amer Picon.
Noch bis heute ist diese Produktionsstädte in Betrieb.
Ehre und Erfolg
Als er im Jahr 1882 starb, war Picon ein fester Bestandteil des französischen Kanons der Bitterliköre und seine Firma äußerst erfolgreich. Einige Jahre vor seinem Tode – im Jahr 1878 – verlieh man Gaétan Picon den Nationalen Orden der Ehrenlegion, das höchste Verdienstabzeichen des Landes.
Bis zum Jahr 1909 eröffnete die Picon & Compagnie allein in Frankreich vier Destillerien zur Produktion. Und im Laufe des 20. Jahrhunderts entstanden viele weitere Produkte; von Pastis bis zum Curaçao-Likör. Sie alle verschwanden, bis auf eines: Picon Biére.
Picon und das Bier
Picon Biére gibt es als eigenständiges Produkt seit 1967 und seither ist dieser Likör ein Kultgetränk. Zumindest im proletarischen Nordosten Frankreichs und dem angrenzenden Belgien.
Durch die enge Verbundenheit mit der Armee waren es vor allem die einfachen Soldaten, die mit Amer Picon in Berührung kamen. Und allzu häufig war dieser Schicht auch im vinophilen Frankreich der Sinn eher nach Bier. Ganz besonders in Regionen, in denen es klima-historisch keinen Wein gab, sondern Bier.
Es ist nicht belegbar, wie es zu der Mischung von Amer Picon und Bier kam, es ist nur der Fall, dass Frankreich ohne dieses Getränk nicht zu denken ist. Zu diesem Bier-Mischgetränk kam es wohl schon in den 1940er Jahren in Nizza – nicht allzu weit von Marseille entfernt. Berühmtheit erlangte dieser Drink spätestens mit dem im Jahr 1962 erschienen Jean-Paul Belmondo Film „Ein Affe im Winter“, wo Picon Biére für reichlich Radau sorgte.
Die danach gestiegene Popularität dieses Drinks wird der Auslöser für die Herstellung eines eigens dafür perfektionierten Likörs gewesen sein.
Mein erstes Picon Biére
Wie sehr Picon Biére – das Getränk und nicht das konkrete Produkt – zu Frankreich gehört habe ich selber erlebt. Als ich vor einigen Jahren im Zuge einer Reportage über Calvados in den Norden Frankreichs fuhr, begann meine Reise in Rouen, der Hauptstadt der Normandie.
Nach einem tollen Abendessen in einem kleinen Restaurant (dessen Namen ich leider nicht mehr weiß) flanierte ich recht beschwipst durch die Stadt in Richtung meines Hotels. Eine Ecke davor gab es eine Art Kiosk mit ein paar Sitzplätzen davor und trotz fortgeschrittener Stunde und der Tatsache, dass der nächste Tag kein freier war, saßen allerhand Menschen vor diesem Kiosk. Es war laut, es wurde gesungen und getanzt. Mein Französisch zu diesem Zeitpunkt war ein größeres Malheur denn heute, doch ich setzte mich an einen Tisch und: nun, ich war ratlos.
Getrieben von der Lust, irgendwie diese authentische Nacht zu erleben und boykottiert durch mein eigenes Unvermögen, bestellte ich ein Bier. Wahrscheinlich erfolgte die Nachfrage „Picon…?“ und noch wahrscheinlicher bejahte ich dies, da ich keine Ahnung hatte, worum es ging.
Und so stand auf einmal ein dunkles, leicht bitteres Getränk vor mir, dass eher nach Bergwerk aussah als nach dem, was ich erwartete. Widererwartend jedoch war es wundervoll. Keinesfalls elegant und noch viel weniger hochgradig komplex – es war kalt, frisch, herb und bitter. Und es sorgte scheinbar dafür, dass die Leute mir zuprosteten. A la vôtre!
Seit jenem Abend hat Picon Biére als Mixgetränk einen besonderen Platz in meinem Herzen und wenn es irgendwo Picon gibt, dann bestelle ich mir dies auch. Denn auch wenn man kein Französisch spricht, mit der Bestellung „une bière Picon s’il vous plaît“ hat man alles richtig gemacht und wird umgehend wohlwollend aufgenommen.
Anmerkung: Was der genaue Unterschied zwischen Amer Picon und Picon Biére ist, kann nicht gänzlich dargestellt werden. Bei Picon selber und dem deutschen Vertrieb Campari gibt es dazu leider keine Information. Geschmacklich ist Amer Picon etwas mächtiger und würzig-bitterer, wohingegen Picon Biére ein wenig fruchtiger und leichter daher kommt.
Anti-Bourgeois und Kult
Dabei ist Picon – als Marke und mit Bier – eher der gekonnte Gegenentwurf zum mondänen Wein. Natürlich trinkt man in Weinregionen auch in der Arbeiterklasse Wein, doch wo es diesen nicht gibt, da ist Bier das identifikationsstiftende und beschwingende Getränk. Mit Picon. Und vielleicht ist es genau das, was Picon grundsätzlich so typisch französisch macht: dieses unangepasste, dieses latente Dagegensein und Kokettieren mit dem einfachen.
Picon ist Kult. Picon ist manchmal auch sozialer Status und vielleicht wird in feinen Kreisen mit der Nase gerümpft. Egal! Mein großer Vorteil dabei ist, ich kann und lieben beides, aber um Champagner geht es an anderer Stelle (da kannst Du hier weiterlesen).
Amer Picon – ein einfacher Bitter
Die Grundlage von Amer Picon bilden nur vier aromatische Zutaten, von denen alle gleichermaßen wahrnehmbar sind. Alles fängt mit frischen Orangen an. Während damals diese Früchte aus Algerien stammten, macht man heute ein Geheimnis aus der Herkunft. Nachdem die Früchte getrocknet wurden, werden diese in Alkohol mazeriert.
Dieses Mazerat wird anschließend feingebrannt und dann mit getrockneten Wurzeln von Enzian und Chinarinde infusioniert. Zum Schluss wird mit Karamell gesüßt. Mehr wird über die Herstellung von Amer Picon nicht verraten. Einzig der Hinweis, dass der ursprüngliche Amer Picon noch 30% Vol. aufwies und der heutige bei 21% Vol. liegt. Der seit 1967 erhältliche Picon Biére kommt mit 19%Vol. daher.
Amer Picon – der Geschmack des alten Südens
Amer Picon ist bei weitem nicht so komplex, wie zum Beispiel der legendäre Chartreuse – der vielleicht berühmteste Kräuterlikör Frankreichs . Aber er ist unglaublich lecker.
Allein schon der Duft dieses dunkelbraunen, rot glänzenden Likörs ist einfach wunderschön! Eine feine Säure wird getragen von Bitternoten und Orangen. Während die bitteren Aromen von Sekunde zu Sekunde deutlicher werden, ohne den anderen Nuancen Raum zu nehmen, entwickelt sich eine tolle Dichte. Man kann das Karamell wahrlich riechen und es balanciert sich wundervoll gegen die Bitterkeit aus. Mit der Zeit wird daraus sogar eine Idee eingemachten Obstes, Rosinen und Orangenmarmelade, wobei die Kräuter etwas in den Hintergrund treten und zurückhaltender werden.
Der Duft ist wirklich zugänglich- selbst für Menschen, denen Bitterliköre eigentlich nicht so zusprechend sind.
Im Mund sind sofort die Orangenaromen präsent und danach öffnet sich das gesamte Aromenprofil. Eine tolle krautige Frische mit Noten von Menthol; dazu kräftige, würzige Nuancen und immer wieder Orangen. Diese schaffen es sogar, etwas Eleganz und Leichtigkeit in den Amer Picon zu bringen. Dazu paart sich eine wunderschöne, harmonische Süße, die fast schon ein wenig an Schokolade erinnert. Der Alkohol ist dabei eigentlich nicht spürbar.
Es ist eine grundsätzlich dunkle Aromatik, mit wirklich frischem Nachklang. Die Orangen scheinen grundsätzlich das zentrale Moment des Amer Picon zu sein und eröffnen sogar einige winterliche Assoziationen von Lebkuchen. Und genau dieses Bild ist so spannend, denn auch wenn diese Noten auffindbar sind, so entsteht doch ein spätsommerliches Gefühl von Wärme, das an Südfrankreich erinnert.
Es ist ein nicht wirklich komplexer Geschmack und eher hemdsärmelig, aber es ist der Geschmack des alten Süden. Die Grenzen zwischen Südfrankreich und Spanien verschwimmen und man möchte zu Hemingways „Tod am Nachmittag“ greifen. Eine Assoziationskette, welche in kulinarisch-historischer Dimension für den in den USA berühmten Picon Punch eine nicht unerhebliche Rolle spielt (diese Geschichte erzählen wir ein anderes Mal).
Amer Picon und Cocktails
Auch wenn Amer Picon heute in den USA nicht mehr erhältlich ist und fast ausschließlich in Frankreich und den angrenzenden Ländern verkauft wird, so ist – vielleicht auch durch diese Verknappung – Amer Picon eine geradezu mythische Instanz im Barregal.
Man findet ihn kaum und wenn es eine Flasche gibt, dann wurde diese im Gepäck geschmuggelt, da angeblich Kalmus in der Rezeptur enthalten ist. Ob dies stimmt, sei einmal dahingestellt. Fest steht, dass einige Drinks in der Nomenklatur der amerikanischen Cocktailwelt ohne Amer Picon nicht denkbar wären. Allen vorran der schon erwähnte Picon Punsch, aber auch der Brooklyn Cocktail (dessen Geschichte wir hier aufgeschrieben haben).
Und genau dieser Brooklyn Cocktail war für mich der Grund, mir eine Flasche Amer Picon zuzulegen und genauer zu schauen, was es mit dieser besonderen Flasche, auf deren Etikett ein Kolonialsoldat – man sagt es wäre Gaétan Picon höchstpersönlich – prangt, auf sich hat.
Und es ist eine tolle Geschichte, deren unwissentlicher Anfang persönlich in einer Trinkhalle in Rouen begann und die noch nicht zu Ende ist.
Cheers.