Es ist schon eine Weile her, dass dieser Artikel über die Zyankali Bar in Berlin auf spirit-ambassador.de erschien, doch dieser Ort mitsamt seines besonderen Betreibers ist noch immer eine Reise wert. Durchschnittliche Lesezeit: 5 Minuten.
Wenn man heute zum ersten Mal die Bar betritt, die sich an der Gneisenau-Straße Ecke Solmstraße befindet, dann kommen einem zwei Gedanken – je nachdem ob einem der Name Tom Zyankali etwas sagt oder nicht. Entweder man kennt Tom – den Hausherren und Betreiber der Bar Zyankali; dann wundert man sich, dass alles so hell und offen wirkt. Kennt man ihn und seine Bar nicht, dann steht man wahrscheinlich eine ganze Weile mit offenem Mund da und staunt. Man staunt und wundert sich, fragt sich wo man hineingeraten ist. Egal wie – man wird definitiv überrascht sein. Die Zyankali Bar ist etwas ganz Spezielles!
Eine Zeitreise in die 80er Jahre
Doch vielleicht sollte man dort beginnen, wo Geschichten immer beginnen: von vorne. Dieses Vorne liegt weit zurück. 1987. Tom Zyankali (kein Mensch kennt seinen bürgerlichen Namen) zieht es aus Neumünster in das westliche Berlin. Dort bewegt sich der gelernte Chemotechniker nächtens im Kreuzberger Kiez um das Madonna, das Wiener Blut oder das Wirtschaftswunder – keinesfalls bekannte Adressen für ausgefeilte Cocktailkunde sondern typische Kneipen der alternativen Szene. Mehr gab es damals in Berlin auch kaum. Sicherlich, der Rum Trader, die Lützow Bar und diverse Hotelbars waren Orte der Cocktailkultur – doch diese waren Ende der 80er auch der Hort der Spießigkeit und vor allem: teuer.
Der ambitionierte Hobbykoch, hauptberufliche Spurenanalytiker und Aroma-Nerd suchte etwas dazwischen. Leider – oder aus heutiger Sicht: Gott sei Dank, fand er dieses Dazwischen nicht. Und so reifte die Überlegung, einen eigenen Trinktempel zu eröffnen, der sich zwischen aromatischen Cocktails und einer entspannten Kreuzberger Lässigkeit wiederfinden ließe. Eines führte zum anderen und so eröffnete er am 1. September 1991 in der Großbeerenstraße 64, im Keller seine Bar. Schon damals war das Bild des frankenstein’schen Labors die Grundidee für das Interieur und den generellen Stil des Ladens. Und man darf eines nicht vergessen: die Neigung zur Chemie; die 80er mit EBM, der Goth-Szene und einer Affinität zur allgemeinen Schrägheit waren noch nicht so weit weg. In Agentenfilmen brachte man sich mit Zyankali um. All dies spielte schlussendlich in die Raum- und vor allem Namensfindung hinein. Die Zyankali Bar war geboren. Irgendwann wurde aus diesem Thomas (gehen wir mal davon aus, dass sich davon Tom ableitet) aus Neu-Münster der Tom aus der Zyankali Bar – irgendwann dann einfach nur noch Tom Zyankali. Als es damals los ging wusste noch niemand, wo man heute – nunmehr 24 Jahre später ankommen würde. Es war noch lange nicht das Nerd-Labor mit Kaviar, Rotationsverdampfer und Aroma-Essenzen. Aber es war ein Ort, an dem man sich über Gastgebertum und Getränke einen Kopf machte. Auch wenn heute etwas kritisch – und nostalgisch auf die damaligen Cocktail-Kreationen zurückblickt wird, so sind doch grundsätzliche Dinge geblieben. Zum Beispiel das Bier: Zyankali Bräu. Frei nach dem Motto: „Wenn ich jetzt schon meine eigene Kneipe mache, dann soll mir das Bier auch selbst schmecken“ entschied sich Tom gegen Industrieangebote und tat sich mit der damals auch jungen Bier Company zusammen. Die Jungs lebten damals um die Ecke und so kam es zur Zusammenarbeit, die bis heute zwischen Tom und Thorsten Schoppe gepflegt wird.
Auf zu neuen Ufern
Ein paar Jahre später kam Diana dazu. Gerade aus München in West-Berlin eingetroffen trafen sich beide zufällig auf einem Motorrad-Festival. Sie kam aus der Eventbranche, hatte partout keine Lust mehr auf Tagesarbeit und wollte die Barseite tauschen; und Tom war auf der Suche nach Verstärkung. Diana ist bis heute geblieben und oft genug vermuten die Leute auch, dass beide mehr seien als Kollegen. Das jedoch wird mit einer unglaublichen Charmanz von beiden Seiten sofort abgewiegelt. Wann genau das alles war weiß keiner mehr so richtig aber beide einigen sich auf eine Zeit zwischen 1995 und 1996.
Damals war Berlin alles, nur keine Cocktailmetropole. Und dennoch versuchte man immer etwas Neues auszuprobieren. Mit dem Wegfall des Absinthe Verbots 1998 und der allgemein bekannten Drogenaffinität der Kreuzberger Kiezgänger dauerte es nicht lange und es gab einen eigenen Absinthe: natürlich Zyankali Absinthe. Leuchtend Türkis und mit diabolischen 66,6%vol. Bis heute die Hauptspirituose der Bar – noch vor Gin und Vodka – und regelmäßig der Grund, warum Leute aus der ganzen Republik und Europa den Weg nach Berlin finden.
Mixologie und andere neue Trends
Dann kamen die 2000er und mit ihnen die Wiederentdeckung der Cocktail-Kultur. 2003 erschien die erste Mixology Ausgabe – ein frisches Magazin gegründet von Jens Hasenbein und Helmut Adam. Es ging darum, die Barszene zu vernetzen und voranzutreiben. Die sirup- und saftgeschwängerten Kopfschmerzen zu vertreiben und ein ordentliches Handwerk zu etablieren. Das passierte auch in Kreuzberg. Von Anfang an dabei die Zyankali Bar – als eine der ältesten aktiven Cocktailbars der Stadt. Die neuaufkommenden Themen und Trends von alten Rezepturen über selbst hergestellte Liköre bis hin zum Cuisin-Style und gereiften Cocktails wurden auch hier aufgegriffen. Vor allem waren sie der Grund, dass Tom nach langer Zeit sein Labor-Equipment wieder aus dem Keller holte und mit dem anfing, wofür er heute weit über Berlins Grenzen hinaus bekannt ist. Nerd-Kram oberster Güte! Neben dem eigenen Haus- und Wandgarten zur Züchtung wundersamster Kräuter, über Rotationsverdampfer und mittlerweile 50 selbst hergestellte Aroma-Essenzen bis hin zu molekularen Cocktails und alkoholischem Eis. Gibt es nicht – gibt es nicht in der Labor-Bar des Tom Zyankali. Passend dazu werden die Drinks natürlich stilecht in Erlenmeyerkolben & Co serviert – was jedoch schon von Anfang an so zelebriert wurde.
Wir machen unsere Gäste nur so betrunken, wie wir auch unsere besten Freunde abfüllen würden
Tom Zyankali
Vor nunmehr 1 1/2 Jahren wurde die alte Kellerbar jedoch zu klein. Zu klein für die Zahl der Gäste – die vor allem aus dem mixlogischen Ausland in das Labor kamen; zu klein für das Labor als solches. Der Beschluss des Umzuges stand fest und nun findet sich die Bar Zyankali an anfänglich beschriebener Adresse: Gneisenaustraße 17.
Das Spannende an diesem Umzug ist, dass sich irgendwie nichts verändert hat – außer, dass sich irgendwie alles verändert hat. Aus dem dunklen Keller ist – bei Tag – lichtdurchflutetes Parterre geworden, die Räumlichkeiten haben sich vergrößert und sowohl vor als auch hinter dem Tresen ist jetzt deutlich mehr Platz. Es wirkt luftiger und damit noch skurriler. Während die Kelleratmosphäre das – für Tom und Diana völlig normale – „Anders sein“ vereinfachte, so wirkt es jetzt noch deutlicher und kontrastreicher. Krankenhausbetten als Sitzgelegenheit, warnend schwarz-gelbe Wandfarben und überall Laborbedarf.
Was geblieben ist, ist die Leidenschaft für ausgefallene Getränke und eine offene und freundliche, aber vor allem lockere Art des Umgangs. Es ist ein angenehmer und witziger Kontrapunkt gegen den Trend der klassischen American Bar und der 20er Jahre Attitüde. Darf man eigentlich etwas Trend nennen, dass es so schon seit 24 Jahren gibt? Egal – wir tun es ganz einfach mal.
Eines steht auf jeden Fall fest. Zeit bei Tom in der Zyankali Bar zu verbringen ist außergewöhnlicher, als sich beim nächsten Gin & Tonic in der wieder nächsten Pop-Up-Bar zu treffen. Es ist sicherlich nicht jedermanns Sache, das muss man eingestehen, doch es ist und bleibt etwas Besonderes, etwas Spezielles.
Als Empfehlung für den nächsten ersten Besuch in dem Getränke-Labor mit Unterhaltungswert kann der Tamarotti im Hinterkopf behalten werden. Ein Tama-Rinden/ Dattel-Chutney mit weißem Schokoladensirup, Mohrrübensaft, Old Monk (indischer Rum) und etwas Habanero Balsamico. Kein Drink, den man blindlings aus einer Karte heraus bestellen würde, sondern etwas wirklich Spezielles. Und sehr lecker! Genau das Richtige in einer Bar wie der Zyankali Bar.